Allgemein

Warum ist die AfD im Osten so stark geworden? 

13.06.2024 • 11:53 Uhr
07.06.2024 Nach tödlicher Messerattacke in Mannheim auf den Polizeibeamten Rouven L. kommt es nicht auf dem Marktplatz zur Kundgebung der AfD und Gegendemonstration der Antifa da dieser ein Ort des Gedenkens sein solll Mannheim Baden-Württemberg Deutschland *** 07 06 2024 After fatal knife attack in Mannheim on police officer Rouven L, there is no AfD rally and Antifa counter-demonstration on the market square as this is supposed to be a place of remembrance Mannheim Baden Württemberg Germany
imago/peter henrich

Die Bundesrepublik erlebt einen dramatischen Vertrauensschwund. Selbst die Jugend scheint verunsichert.

Relativer Abstieg? Über solche Ferndiagnosen können sie in Magdeburg nur lachen. Vor den Toren der ostdeutschen Stadt investiert der US-Konzern Intel rund 30 Milliarden Euro in eine neue Chipfabrik. „Hier herrscht Aufbruch! Darauf haben die Menschen lange gewartet“, so Sandra Yvonne Stieger, Wirtschaftsdezernentin der Stadt. Der Osten blüht auf. Tesla baut in Grünheide vor den Toren Berlins E-Autos für ganz Europa, der chinesische Hersteller CATL fertigt im thüringischen Erfurt Batterien und im sächsischen Dresden arbeiten fast hunderttausend Menschen in der Halbleiter-Industrie. Nützt alles nichts. In allen ostdeutschen Bundesländern wurde die AfD bei der Europawahl am Sonntag erste Kraft, am stärksten ist die Partei in Sachsen mit fast 32 Prozent, selbst im aufstrebenden Magdeburg kam die in Teilen rechtsextreme Partei auf 22 Prozent. Mehr als eine Denkzettelwahl. 

Stukturwandel nach der Wende

Das sagen auch Analysen der Wahlforscher. Nach Daten von Infratest dimap für die ARD stimmten 51 Prozent der Wähler der AfD aus Überzeugung für die Bewegung (14 Punkte mehr als vor fünf Jahren) und lediglich 44 Prozent äußerten eine Enttäuschung über eine andere Partei. Die alten Erklärungsmuster von Protestwahl und Modernisierungsverlierern greifen nicht mehr. Es geht um Struktur und Verlust. „Betriebe im Osten waren viel mehr als Arbeitgeber, sie waren eine Art Vollversorger von der Wohnung bis zum Betriebssportverein“, so der bayerisch-österreichische Historiker Philipp Ther, der den Strukturwandel in Osteuropa in seiner beeindruckenden Studie „In den Stürmen der Transformation“ untersucht hat. Mit dem Fall der Mauer 1989 zerbrach nicht nur die Arbeitswelt, sondern der gesamte soziale Zusammenhang. Noch etwas war anders beim Strukturwandel nach der Wende: „Der Strukturwandel West war stark von staatlichen Maßnahmen flankiert und sozial abgefedert, mit Abfindungen und Umschulungsprogrammen einerseits und einer aktiven Industriepolitik andererseits“, so Ther. Im Osten wurde vornehmlich plattgemacht. Das Vertrauen ist gering – nicht nur gegenüber dem Staat, sondern auch gegenüber Unternehmen. Im Osten herrscht Skepsis. Klingt nicht gut vor den Landtagswahlen im September in Brandenburg, Sachsen und Thüringen.  

Bündnis Sahra Wagenknecht

Vom Unmut Ost profitiert auch die neue Bewegung Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Bundesweit erzielte die Partei bei der Europawahl 6,2 Prozent. Hochburgen sind Sachsen (12,6 Prozent) sowie Thüringen (15 Prozent). Das neue Bündnis zieht nach den Wahlanalysen aus zwei Gründen: Frieden (sprich Ausgleich mit Russland) nennen 37 Prozent der BSW-Anhänger als vorrangiges Thema – und die Person Sahra Wagenknecht. 78 Prozent der Anhängerschaft gibt an, die Partei ohne die frühere Linken-Chefin nicht wählen zu wollen. Endlich eine aus dem Osten, die es dem Westen mal gibt. In Ostdeutschland fühlt man sich unterrepräsentiert. Und stetig missverstanden – nicht nur in Friedensfragen. 

CDU und AfD

Für die Union als Wahlsiegerin mit 30 Prozent macht es das nicht einfacher. Weder im Bund noch im Osten. Die Partei quälen trotz des Erfolgs zwei Herausforderungen. Die erste ist die K-Frage: „Es muss diskutiert werden, wer der Richtige ist“, stellte Klaus Holletschek, Vertrauter von CSU-Chef Markus Söder, den Führungsanspruch des CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz infrage. Auch aus der CDU gibt es kritische Stimmen. „Alle Ministerpräsidenten haben die Fähigkeit zur Kanzlerkandidatur“, so Nordrhein-Westfalens CDU-Regierungschef Hendrik Wüst. Selbstredend auch er. Und so legte Wüst nach der Wahl gezielt nach. Bei einer Reise nach Sachsen schloss er auf kommunaler Ebene eine Zusammenarbeit mit der AfD nicht aus. Er wende sich gegen „pauschale Empfehlungen“, so Wüst. Neben ihm in Leipzig stand Sachsens CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer und wetterte gegen die „Brandmauer“. CDU-Chef Merz hatte da in Berlin gerade an den Parteitagsbeschluss der Union erinnert. Nicht mit der AfD. Auch zum BSW ging Merz auf Distanz. Mit wem will die CDU noch regieren, bei Grünen und SPD von teils unter zehn Prozent im Osten. Wird noch spannend nach den Landtagswahlen im Herbst. In Bündnisfragen im Osten. Und Personalentscheidungen im Bund. Auch Sieger haben Probleme.

So wie die Verlierer. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) schwieg zum schwachen Abschneiden der Sozialdemokraten. Nur eine vorgezogene Neuwahl ließ er ausschließen. Ging schon einmal schief: 2005 bei Gerhard Schröder. Ansonsten versucht die SPD nicht in den alten Krisenmodus zurückzufallen und Debatten über das Spitzenpersonal zu vermeiden. Verteidigungsminister Boris Pistorius wäre eine Alternative. Doch quälen die SPD mehr Struktur- als Personalprobleme. 33 Prozent der Arbeiterschaft wählten AfD – zehn Punkte mehr als vor fünf Jahren. Die Partei verliert die Basis. Umso mehr versucht die SPD in den Etatberatungen mit Grünen und FDP Soziales wie Rente zu verteidigen. Es bleibt unruhig in der Ampel. 

Jugend verunsichert

Und erst recht in der Jugend. Erstmals bei einer bundesweiten Abstimmung durften bei der Europawahl Jugendliche ab 16 wählen. Das Ergebnis überraschte. 17 Prozent der Erstwähler stimmte für die CDU, 16 Prozent für die AfD. Ein Trend, der sich auch mit anderen Untersuchungen deckt. Die TUI Jugendstudie etwa deckte einen neuen Pessimismus unter den Jugendlichen auf. 52 Prozent glauben, es werde ihnen schlechter gehen als ihren Eltern. 46 Prozent der Jugendlichen in Deutschland nennt Migration als wichtigste Herausforderung, zehn Punkte mehr als in der EU und weit vor Klima (33 Prozent). Es verschiebt sich was. Auch bei der Jugend. Gerade hier hat die Pandemie ein Gefühl der Verletzlichkeit hinterlassen. Es bleibt ein Vertrauensverlust – auch in die Gestaltung der Zukunft. „Junge Menschen wählen stark programmatisch“, sagt Jugendforscher Simon Schnetzer der ARD. „Und im Moment sind die großen Sorgen Finanzen und Krieg. Und sie wünschen sich hier eine andere Politik.“ Vor allem aber mehr Sicherheit. 

Die Pandemie erzeugte nicht nur bei der Jugend eine große Illusion. Das alles danach wieder so wird wie davor. Eine enttäuschte Hoffnung. Die Welt von gestern bleibt im Gestern. Es gibt nur noch Zukunft. Zeit, sie zu gestalten.