Gewalt an Frauen: “Ich wünschte, das Thema wäre 365 Tage im Jahr präsent”

Angelika Wehinger, die Geschäftsführerin des Gewaltschutzzentrums Vorarlberg, im Gespräch über die Hoffnung, wachsende Zahlen in der Gewaltstatistik und Cybergewalt.
zur person
Angelika Wehinger ist seit dem 1. Jänner 2023 die Leiterin der ifs Gewaltschutzstelle in Vorarlberg, einer gesetzlich anerkannten Opferschutzeinrichtung, die Menschen unterstützt, die von häuslicher Gewalt oder Stalking betroffen sind.
“Ich durfte einmal eine Frau begleiten, die über 40 Jahre in einer Gewaltbeziehung gelebt hat. Im hohen Alter schaffte sie dann den Schritt, die Polizei zu rufen“, erzählt Angelika Wehinger, die Geschäftsführerin des Gewaltschutzzentrums Vorarlberg, dessen Träger das Institut für Sozialdienste ist. Es ist nur einer der vielen besonderen Momente ihrer Karriere, der ihr im Kopf geblieben ist. „Es ist mir sehr eindrücklich in Erinnerung geblieben, wie diese Frau es schaffte, sich zu lösen und doch noch ein anderes Leben zu führen“, erzählt sie.
Man könnte diese Geschichte jetzt als Erfolg verbuchen, doch Angelika Wehinger ist vorsichtig, mit diesem Begriff. „Die Frage ist immer, was Erfolg in unserer Arbeit bedeutet. Wir müssen dieses Wort unterschiedlich definieren.“ Oftmals sei es schon ein Erfolg, wenn man es schaffe, ein Vertrauensverhältnis zu Betroffenen aufzubauen. „Der Ausstieg aus einer Gewaltbeziehung ist oftmals ein Prozess, bei dem es viele, manchmal auch kleinere Schritte, braucht, bis größere möglich sind“, erklärt Wehinger.
„Ich würde mir wünschen, dass das Thema 365 Tage im Jahr präsent ist.“
Angelika Wehinger, Leiterin der ifs Gewaltschutzstelle Vorarlberg
Wachsende Zahlen
In den Medien kursieren Zahlen, die teilweise nach einem massiven Anstieg der Gewalttaten aussehen. Doch Wehinger sieht das etwas anders. „Es sind mittlerweile andere Gewaltformen dazugekommen, als zu dem Zeitpunkt, als ich mit meiner Arbeit begonnen habe“, erzählt sie. „Das Bewusstsein für die unterschiedlichen Gewaltformen ist deutlich gestiegen. Zum Beispiel wird psychische Gewalt und Stalking jetzt mehr wahrgenommen.“ Als Stalking 2006 strafbar geworden ist, hat es einige Zeit gedauert, bis es als eigene Gewaltform ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt ist.
„Natürlich sind wir mit wachsenden Zahlen konfrontiert. Allerdings steigt die Anzahl an Angeboten auch seit Jahren an. Wir erklären uns das aber in erster Linie nicht damit, dass die Gewalt gestiegen ist, sondern damit, dass die Sensibilisierung und die Prävention wirken“, erklärt Wehinger. Betroffene würden schneller eingreifen und Gewalthandlungen, wie beispielsweise übermäßige Kontrolle, würde rascher erkannt werden. „Das Thema wurde in den letzten Jahren ein stückweit enttabuisiert. Das Ziel ist es, das Thema in die Mitte der Gesellschaft zu holen.“
Mit Veranstaltungen und Öffentlichkeitsarbeit will das Gewaltschutzzentrum Betroffenen zeigen, dass das Thema sehr wohl präsent ist und sie damit nicht allein sind. Gerade deshalb, weil Gewaltopfer oft von der Außenwelt abgeschieden werden. „Wir sehen es sogar eher positiv, wenn die Anfragen steigen. Es zeigt, dass sich mehr Betroffene an uns wenden“, erklärt Wehinger.
503 betretungs- und annäherungsverbote
verzeichnete das Gewaltschutzzentrum Vorarlberg im Jahr 2023. Österreichweit waren es 15.115 Verbote, die ausgesprochen wurden.
Gewalt im Internet
Ein weiteres Thema ist die Cybergewalt, also Gewalt, die im Internet passiert. „Dabei wird gedroht, dass Fotos, sexualisierte Inhalte, veröffentlicht werden, die vielleicht zu einem früheren Zeitpunkt einmal freiwillig gemacht wurden. Die Betroffenen sollen bloßgestellt werden“, erklärt Wehinger. Es werde damit gedroht, das intime Bildmaterial an einen großen Personenkreis weiterzugeben. „Es ist völlig unkontrollierbar, wo solche Fotos und Videos schlussendlich landen. Der Gewaltraum hat sich mit dieser Tatsache massiv vergrößert. Er ist zeit- und ortsunabhängig geworden. Wenn Opfer im Frauenhaus, also an einem sicheren Ort, sind, können sie trotzdem Opfer von Cybergewalt werden.“ Nichtsdestotrotz könne Social-Media auch durchaus förderlich sein, wenn es um das Thema Gewaltprävention gehe.
„Es kann durchaus auch Menschen helfen, wenn diese sehr isoliert sind und wenig Kontakte haben dürfen. Es kann eine Möglichkeit sein, einen Zugang zur Außenwelt zu haben“, so Wehinger.
Nicht nur Frauen
„Gewalt gegen Frauen hat einen starken Bezug zum patriarchalen System. Diese Strukturen in unserer Gesellschaft hängen eng mit dem Ausmaß an Gewalt zusammen“, findet Wehinger.
Sie zieht das Männlichkeitsbild stark in die Kritik: „Es werden bestimmte Männlichkeitsbilder aufrechterhalten, die in bestimmten Situationen Gewalt als Teil von Männlichkeit ansehen.“ Gerade die finanzielle Abhängigkeit würde den Ausstieg aus einer Gewaltbeziehung oftmals erschweren. „Eine enorm wichtige Präventivmaßnahme ist die Gleichstellung der Geschlechter in der Gesellschaft“, erklärt sie. „Gewalt wird sich nie zur Gänze verhindern lassen, aber die Gleichberechtigung der Geschlechter ist ein wichtiger Schritt auf allen Ebenen.“
Es würde laut Wehinger schon im Bildungsbereich beginnen, wenn Kinder lernen, wie gesunde, gelingende Beziehungen aussehen. Auch die Sprache spiele eine große Rolle, wenn es zum Beispiel um Kinderbücher, oder um das Thema Gendern gehe. „In der Sprache drückt sich ein Stück weit das Denken aus.“ Doch nicht nur Frauen, die Opfer von Gewalt werden, können sich an das Gewaltschutzzentrum wenden.
Auch Männer werden jederzeit beraten. „Natürlich sind wir für alle Personen offen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind“, sagt Wehinger. Rund 20 Prozent der Fälle seien Männer, erklärt sie. „Hier sieht es oft so aus, dass es um Vater-Sohn-Beziehungen geht.“
265 Prozessbegleitungen
führte das Gewaltschutzzentrum Vorarlberg vergangenes Jahr durch. Die Befragungen im Zuge einer Gerichtsverhandlung können für Betroffene oftmals sehr traumatisch sein.
Die Rolle von Weihnachten
Trotz der steigenden Nachfrage an Hilfeleistungen gibt es noch immer eine hohe Dunkelziffer an Gewalttaten. „Das Thema ist nach wie vor sehr schambehaftet. Viele Frauen suchen die Schuld zuerst bei sich selbst. Es fällt ihnen schwer, mit dem Thema nach außen zu gehen und sich einzugestehen: Ich brauche Hilfe.“
Prävention heiße daher primär, zu sensibilisieren. „Es gibt kein Verhalten, das eine Frau vor Gewalt schützt. Wir wissen, dass Vergewaltigungen in der Alltags- und Berufskleidung passieren. Für Frauen ist der gefährlichste Ort nach wie vor die eigenen vier Wände.“ Für Männer hingegen sei es der öffentliche Raum. Beim Thema Gewalt in den eigenen vier Wänden spielen auch die nahenden Weihnachtsfeiertage eine Rolle. „Das sind Zeiten, an die eine extrem hohe Erwartungshaltung gestellt wird. Besonders im familiären Kreis haben viele die Erwartung, dass alles harmonisch verlaufen muss. Es sind sehr emotionale Tage.“
Die Weihnachtsfeiertage können daher sehr krisenhafte Zeiten sein. „Oft versuchen Betroffene auch noch krampfhaft, die Feiertage irgendwie zu überstehen. Da sind oftmals Kinder im Spiel, für die dann sozusagen der Familienfrieden noch aufrechterhalten werden muss“, erklärt die Geschäftsführerin. Darum würden die Anfragen auch gerade im neuen Jahr eher ansteigen, als zur Weihnachtszeit. „Die Betroffenen schleppen sich ins neue Jahr.“
Die Anfragen seien aber jedes Jahr etwas zeitversetzt. „Wenn man innerhalb der Familie auf einmal viel Zeit miteinander verbringt, steigt die Gefährdung der häuslichen Gewalt“, erklärt Wehinger.
Strukturelle Veränderungen
„Österreich hatte international lange Zeit eine Vorbildfunktion, im Bezug auf das Gewaltschutzgesetz“, erklärt die Geschäftsführerin. „Nach wie vor arbeiten Gewaltschutzzentren und Polizei Hand in Hand zusammen. Das funktioniert sehr gut“, so Wehinger weiter. In Ländern, in denen die Gleichstellung der Geschlechter allerdings weiterentwickelt sei, sei die Situation allerdings wesentlich besser. „Ich spreche hier von Ländern, in denen Männer ganz selbstverständlich mehr sorgende Arbeiten übernehmen.“ Die strukturellen Bedingungen würden diese Tätigkeiten ganz anders vorsehen. Die Rede ist von nordischen, skandinavischen Ländern.
„Da ist wesentlich mehr notwendig, als ein Monat Karenzzeit“, appelliert sie. „Es braucht strukturelle Veränderungen, die solche Regelungen vorgeben. Ich denke, hier kann Österreich sehr wohl etwas dazulernen.“
1.043 klientinnen und klienten
erzeichnete das Gewaltschutzzenturm Vorarlberg vergangenes Jahr. Davon waren 768 Neuanmeldungen. 275 der betreuten Personen davon wurden schon im Vorjahr betreut. Im Vergleich dazu wurden beispielsweise in der Bundeshauptstadt Wien vergangenes Jahr 3.774 Anlassfälle gemeldet.
Nicht die Hoffnung verlieren
„Die 16 Tage gegen Gewalt sind natürlich sehr wichtig. Es rückt das Thema durch die unterschiedlichsten Veranstaltungen in den Fokus. Ich würde mir allerdings wünschen, dass das Thema 365 Tage im Jahr präsent ist“, appelliert Wehinger.
„Jeder und jede von uns kann das ganze Jahr über eine klare Haltung gegen Gewalt an Frauen haben. Das Thema muss weiter sensibilisiert werden, das sollte eigentlich selbstverständlich das ganze Jahr über passieren. Ein Zeichen ist super, aber insgesamt einfach zu wenig.“
Aber wie schafft man es, in einem Beruf, mit solch schweren Themen, nicht die Hoffnung zu verlieren? „Wir merken, dass unsere Arbeit Sinn macht. Wir können Menschen in schwierigen Lebenslagen ein Stück weit begleiten. Das lässt uns mit Freude weiterarbeiten.“
Hilfe für betroffene in vorarlberg
Amazone
Ort: Bregenz
Gewaltformen: Zwangsheirat und Verschleppung
Art des Hilfsangebots: Beratung
+43 5574 45 801
https://www.amazone.or.at
Femail
Ort: Lustenau und Feldkirch
Gewaltformen: Zwangsheirat und Verschleppung
Art des Hilfsangebots: Beratung
+43 5522 310 02
https://www.femail.at
Frauenberatungsstelle bei sexueller Gewalt Vorarlberg – ifs Institut für Sozialdienste
Ort: Feldkirch
Gewaltformen: Sexuelle Gewalt
Art des Hilfsangebots: Beratung
+43 5 175 55 36
https://www.ifs.at/frauenberatungsstelle-bei-sexueller-gewalt.html
Gewaltschutzzentrum Vorarlberg
Ort: Feldkirch und Regionalstellen (Bregenzerwald, Hohenems)
Gewaltformen: Häusliche Gewalt / Gewalt in der Privatsphäre, Stalking
Art des Hilfsangebots: Beratung
+43 5 175 55 35
https://www.gewaltschutzzentrum.at/vorarlberg/
ifs Frauenhaus und Frauennotwohnung Vorarlberg
Ort: Dornbirn
Gewaltformen: Häusliche Gewalt / Gewalt in der Privatsphäre
Art des Hilfsangebots: Beratung, „Rund um die Uhr“-Erreichbarkeit, Frauenhäuser und sonstige Schutzunterkünfte
+43 5 175 55 77
https://www.ifs.at/frauennotwohnung
hilfe für betroffene österreichweit
Frauenhelpline: 0800 222 555, online www.frauenhelpline.at, rund um die Uhr erreichbar
Telefonseelsorge: 142 (Notruf), online www.telefonseelsorge.at, rund um die Uhr, Telefon-, Email- und Chatberatung
Ö3-Kummernummer: 116 123, Telefonberatung durch das Rote Kreuz, täglich von 16 bis 24 Uhr
Österreichische Gewaltschutzzentren: 0800 700 217, Hilfe und Unterstützung für Opfer von Gewalt
Bund Autonome Frauenberatungsstellen bei sexueller Gewalt:
Gewaltformen: Sexuelle Gewalt
Art des Hilfsangebots: Beratung
+ 43 1 523 22 22
https://www.sexuellegewalt.at
ZARA – Beratungsstelle #GegenHassimNetz:
Ort: Wien
Gewaltformen: Cyber-Gewalt
Art des Hilfsangebots: Beratung
+43 1 929 13 99
https://www.zara.or.at/de/beratungsstellen/GegenHassimNetz