Auch in Ägypten liegen die Nerven blank

Kairo fürchten, dass wegen den angekündigten Raketenangriffe Israels Hunderttausende Palästinenser in Richtung Ägypten flüchten könnten.
In Kairo herrscht Nervosität. Ägyptens Staatschef Abdel Fattah al-Sisi rutscht auf seinem Stuhl hin und her, als er den amerikanischen Außenminister Anthony Blinken trifft. Dieser jettet gerade von einem zum anderen: erst Saudi-Arabien, dann Ägypten, Katar, Israel und schließlich Westjordanland. Er muss eine Feuerpause erreichen, einen Gefangenenaustausch zwischen Israel und der Hamas. Sonst droht ein Desaster. Israels Verteidigungsminister Joaw Gallant wird nicht müde zu betonen, dass seine Armee nun auf Rafah vorrücke, nachdem sie in Khan Junis fertig sei. Rafah ist zweigeteilt. Der eine Teil liegt im Gazastreifen, der andere in Ägypten auf der Halbinsel Sinai. Die Grenze zwischen beiden Stadtteilen droht zur Schicksalsfrage zu werden.
Rafah am Rande des Kollapses
Im palästinensischen Rafah gibt es nur drei Krankenhäuser von insgesamt 18 im gesamten Gazastreifen. Es ist schwer zu sagen, wie viele noch funktionieren. Für westliche Journalisten ist vor den Toren Rafahs auf der ägyptischen Seite Schluss, wenn sie überhaupt so weit kommen. Denn die ägyptischen Sicherheitskräfte lassen nur staatlich genehmigte Reisen auf den Sinai zu. Marwan Al Hams ist Leiter des gesundheitlichen Notdienstes in Rafah und malt ein düsteres Bild. Mittlerweile soll schon die Hälfte der 2,2 Millionen Einwohner des Gazastreifens in der südlichsten Stadt angekommen sein.
Die Menschen flohen zuerst vor den Raketenangriffen im Norden und dann auch aus dem Flüchtlingslager Khan Junis, wo die meisten untergekommen waren. Al Hams spricht am Telefon von „einer verheerenden Überfüllung“, die schlimme gesundheitliche Probleme mit sich bringe, denen die Stadt nicht gewachsen sei. „Ein Desaster“, kündige sich an. Das Abu Youssef Al Najjar Krankenhaus, in dem Al Hams arbeitet, verzeichnet derzeit einen steilen Anstieg an Krankheiten wie Diarrhö, Influenza, Bronchitis und Magen- und Darminfektionen von Kindern, Frauen und älteren Menschen. Die Kinder verzeichneten außerdem schwere Dehydrierung und Anämie aufgrund von Unterernährung. Letztendlich, so prophezeit der Arzt, gäbe es keinen Ausweg aus dem Dilemma, als dass die Grenze zu Ägypten geöffnet werde. Doch genau davor haben die Ägypter Angst.
Angst vor Flüchtlingswelle
Für Ägypten als direkter Anrainerstaat zum Gazastreifen wird die Lage immer brenzliger. Während die Kämpfe anfangs im Norden des am dichtest besiedelten Landstrichs der Welt tobten, bombardiert die israelische Armee jetzt immer mehr den Süden. Dort wird der Drahtzieher des Massakers der Hamas an über 1000 Israelis vom 7. Oktober, Yahya Sinwar, vermutet. Er soll den Befehl dazu gegeben und auch die Geiselnahme initiiert haben. Sollten sich die Kämpfe auf Rafah konzentrieren, bleibt für die über eine Million Menschen dort nur noch ein Ausweg zur Flucht: die Grenze zu Ägypten. Was, wenn plötzlich eine Million Palästinenser den Grenzübergang stürmen? Was werden die Ägypter dann tun?
Verhandlungen in Kairo
In Kairo ist man ratlos oder hält sich mit der Antwort bedeckt. Doch laufen die Drähte heiß, schnell eine Feuerpause zu verhandeln. Die Positionen sind kontrovers. Wie ein Unterhändler im Gespräch mit der „Kleinen Zeitung“ in Kairo vertraulich berichtet, wollen Hamas und andere bewaffnete Gruppen wie der „Islamische Dschihad“ keine kurzfristige Lösung akzeptieren wie im November, als eine achttägige Feuerpause herrschte. Jetzt soll die Freilassung der noch verbliebenen israelischen Geiseln mit einem permanenten Waffenstillstand verknüpft werden. Israels Premier Benjamin Netanjahu dagegen hat wiederholt gesagt, der Krieg werde noch Monate dauern und seine rechtsgerichtete Regierung will der Hamas künftig keine Rolle im Gazastreifen zugestehen.