Kultur

Neue Perspektiven in der Kunstsammlung

27.11.2023 • 21:12 Uhr
Letizia Ragaglia
Letizia Ragaglia

Interview. Im Juli 2021 hat die 54-jährige Südtirolerin Letizia Ragaglia die Direktion des Kunstmuseums Liechtenstein übernommen. Die agile Kunstfachfrau brennt vor Freude (Letizia bedeutet zu Deutsch Freude) für die Kunst, das spürt jeder und jede, der sie trifft, und klingt auch aus den engagierten Antworten, auf die Fragen der Neuen?

Nun gibt es einen neuen Online-Zugang zur Sammlung des Kunstmuseums Liechtenstein. Ersetzt das Digitale den Gang ins Museum?
Letizia Ragaglia: Auf keinen Fall! Vielleicht klinge ich rhetorisch, aber wir haben, glaube ich, alle in der Pandemie gemerkt, wie unersetzbar das physische Erleben der Kunst ist. Eine optimal aufgearbeitete Online-Sammlung ist jedoch in vielerlei Hinsicht nützlich und zweifellos notwendig: Sie vermittelt transparent einer breiten Öffentlichkeit, welches Kulturerbe im Museum verwahrt wird, und fungiert somit auch als Anregung für einen Museumsbesuch; weiters ist sie für Forschende und professionell an der Sammlung Interessierte ein sehr wichtiges und heutzutage unumgängliches Arbeitsinstrument.

Sind 500.00 Schweizer Franken viel als Ankaufsbudget?
Ragaglia: Es ist ein gutes Budget, und wir sind froh, über diese Summe verfügen zu können, um unserem Sammlungsauftrag nachzukommen. Aber es ist natürlich auch eines, das sehr sorgfältig eingesetzt werden muss.
Das Kunstmuseum Liechtenstein hat in seinen Gremien eine Ankaufskommission: In engem Austausch mit den Mitgliedern dieser Kommission wird eine Strategie erstellt und es wird gründlich überlegt und diskutiert, welche Positionen die Sammlung ergänzen könnten, welche jungen Künstlerinnen und Künstler schon existierende Werke in ein neues Licht rücken könnten. Da es nicht um Positionen der klassischen Moderne geht, kann man mit diesem Budget noch bedeutende „historische“ Werke von relevanten Figuren, sogenannte key-figures, ankaufen und gleichzeitig jüngere Positionen in die Sammlung einfließen lassen.

Warum haben Sie immer noch die Schwerpunkte Skulptur, Arte Povera und Osteuropa?
Ragaglia: Die genannten Schwerpunkte wurden neben anderen von Personen gesetzt, die eine Vision für das Museum und in diesen Bereichen auch besondere Kompetenzen hatten. Sie gehören zur Geschichte des Museums und sind deshalb von großer Bedeutung. Gleichzeitig fungieren sie als Basis für einen weiteren Sammlungsausbau und für ein Weiterdenken: Genau an diesen Strängen arbeiten wir.

Ist das Sammeln von Frauenkunst im Zeitalter des fluiden Genderregimes nicht aus der Zeit gefallen?
Ragaglia: Ganz im Gegenteil! Es gibt noch so viel aufzuholen bei der Sichtbarmachung und Wertschätzung weiblicher Positionen in der Kunst. Und das eine schließt das andere nicht aus!

Eurozentrismus versus Weltkunst. Warum sammeln Sie gerade Kunst aus Südamerika?
Ragaglia: Ich muss da einen Moment ausholen. Beim Aufbau einer Sammlung gibt man sich bewusst einen Rahmen, abgestimmt auf den Kontext, in dem man wirkt. Man hat für die Liechtensteinische Staatliche Kunstsammlung, später die Sammlung des Kunstmuseums, entschieden, vor allem auf europäische und nordamerikanische Kunst zu setzen, weil das am sinnvollsten und praktikabelsten schien. Das ist völlig nachvollziehbar. In der Vergangenheit war der westlichen Kunstszene zwar durchaus bewusst, dass es nicht nur eine Kunstgeschichte, sondern auch genauso relevante Parallelgeschichten gibt, man hat aber meistens doch nur eine Kunstgeschichte dokumentiert und erzählt. Das hat sich heute verändert. Somit versuchen wir auch Dialoge herzustellen, die unsere Sammlung durch neue Perspektiven bereichern, unter anderem mit Positionen aus Südamerika, aber nicht ausschließlich. Der Kern wird in Europa und Nordamerika bleiben, aber es ist legitim und ich denke auch notwendig, Bezüge mit anderen Kulturen herzustellen und auch Parallelismen sowie Unterschiede zu erforschen. Das ist für mich zum Beispiel die Bedeutung einer „parallelen Moderne“, ein Begriff, der mir besser gefällt als „Multimoderne“.

Welche sind Ihre persönlichen „alten Freunde“, wie sie gute Kunstwerke auch nennen?
Ragaglia: Oh, da gibt es viele! Um ein paar Beispiele zu nennen: Fast jedes Mal, wenn ich in London bin, sehe ich mir die Werke von William Blake in der Tate Britain an und den Mark Rothko-Saal in der Tate Modern. In Rom zieht es mich immer wieder zum Caravaggio in San Luigi dei Francesi, in Florenz zur Deposizione von Pontormo in Santa Felicita. Ein guter Bekannter von mir hat in einem Weingut in Magreid, Südtirol, ein Bienenhaus von Carsten Höller und Rosemarie Trockel, das zu sehen mir jedes Mal riesige Freude bereitet! Die Liste könnte noch lange weitergehen; in vielen Städten, wo ich oft war, gibt es alte Freunde, die ich gerne besuche.

Was ist gute Kunst?
Ragaglia: Ich glaube an eine Kunst, die parallele Dimensionen und Welten öffnet, die unsere Vorstellungswelt anregt, die zeigt, dass die Dinge nicht nur schwarz oder weiß, sondern auch ganz einfach anders sein können; an eine Kunst, die unsere eigene Perspektive kontinuierlich relativiert und bereichert. Um es mit Hans Ulrich Obrist zu sagen: „Künstlerinnen und Künstler haben die wunderbare Fähigkeit, das zu sehen, was sein könnte, jenseits von dem, was ist.“

Welche Erwartungen haben Sie an die Kunstproduktion der Gegenwart?
Ragaglia: Etwas plakativ ausgedrückt, „all art has been contemporary“: Jede Kunst ist eine Kunst der Gegenwart gewesen und in allen Epochen hat diese Kunst eine gewisse zeitliche Relativierung gebraucht, um anerkannt zu werden. Für mich persönlich ist es ein notwendiges Bedürfnis, fast tagtäglich in die zeitgenössische Produktion von Kunstwerken einzutauchen, mich damit auseinanderzusetzen. Ich erachte es als ein Privileg, Visionen von Künstlerinnen und Künstlern teilen zu dürfen, es ist eine besondere Art von Bereicherung, die ich extrem bedeutend finde.

Was ist im Kunstmuseum in den nächsten Jahren zu erwarten?
Ragaglia: Wir verfolgen eine Dreijahresplanung. Wir werden auch in den kommenden Jahren in verschiedenster Weise mit der Sammlung arbeiten: Es wird vertiefende Einzelausstellungen zu Künstlerinnen und Künstlern geben, die in der Sammlung vertreten sind. Mit dem kürzlich gestarteten Format «Artist’s Choice» werden sich neue, unerwartete Perspektiven auf die Sammlung eröffnen. Aber es wird auch wieder große thematische Gruppenausstellungen geben. Performance bildet einen neuen Schwerpunkt im Programm. In der Kunstvermittlung und im Veranstaltungsprogramm wird es bewährte und neue Formate geben, um das Kunstmuseum für möglichst viele Menschen zu einem Ort der Begegnung zu machen.

Neue Ausstellungen: „Die ganze Palette. Werke aus der Hilti Art Foundation“ und „Liliana Moro. Andante con moto“. Erste öffentliche Führung mit Letizia Ragaglia zur Einzelausstellung der italienischen Künstlerin Liliana Moro: Donnerstag, 18 Uhr.

von Wolfang Ölz