Kultur

Charli xcx: Die gute Göre

04.07.2024 • 15:42 Uhr
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Charli xcx singt über Verletzlichkeit und Selbstvertrauen in ihrem neuen Album. MAJA SMIEJKOWSKA via REUTERS

Die britische Hyperpop-Sängerin Charli xcx legt mit „Brat“ wohl eines der besten Alben des Jahres vor.

Von der Hintergrund-Einflüsterin zur Szene-Legende

Es gibt Personen, die wichtiger sind als CEOs und Premierminister. Die berühmten Männer und Frauen in der zweiten Reihe. Charli xcx ist so eine Person. Sie ist die einflussreiche Einflüsterin der Pop-Welt, die im Hintergrund ihre Fäden spinnt und Trends setzt. Nicht von ungefähr war ihr erster Hit ein Song für jemanden anders. „I Love It“ schrieb sie für das schwedische Pop-Duo Icona Pop. Den Song wird noch heute auf jeder guten Party gespielt. Icona Pop kennt dagegen niemand mehr. Es folgte das erste Charli-Album „True Romance“ (2013) und die gelobte Pop-Scheibe „Sucker“ (2014).

Bis hierher hätte aus xcx eine weitere halb erfolgreiche UK-Popindustriepflanze à la Lily Allen oder Jessie J werden können. Doch genau an diesem Punkt machte die bürgerliche Charlotte Emma Aitchison, Tochter eines schottischen Vaters und einer indischen Mutter aus Uganda, zum ersten Mal das, was keiner erwartet hatte, und besiegelte damit ihre Zukunft. Sie verstörte mit der EP „Vroom Vroom“, die die Geburtstunde des Hyperpops im großen Stil einläutete. Heute ist Charli xcx eine Szene-Legende, sie ist beliebt bei Nerds und Radiohörerinnen gleichermaßen, changiert genrefrei zwischen Electro-Punk und Dance.

Brachialer Monolith und rasanter Rave

Umgeben von einer futuristischen Klang-Kulisse, liefert die Sängerin die spannendsten Gesangsharmonien im Mainstream-Business. Das klingt zunächst einfach, ist in Wahrheit seit Jahren Avantgarde. Sie ist ein bisschen trash, ein bisschen David Guetta, ein bisschen UK-Garage, aber eigentlich schon wieder viel weiter. Eine höllische Hellseherin.

Ihr neues Album „Brat“, was übersetzt so viel wie „Göre“ heißt, treibt diese Pop-Spielart auf die Spitze. Das Album ist ein brachialer Monolith, klingt wie ein Pitbull, der weint. Es darf als Ode an die Wurzeln der Künstlerin verstanden werden. Eine Geste an den bebenden Londoner Techno-Untergrund in rostigen Lagerhäusern, in denen sie bereits als 14-Jährige erste DJ-Sets spielte. Und es ist das Gegenteil ihres letzten Albums „Crash“, mit dem sie ihren Mainstream-Durchbruch inszenierte: Störrisch, bebend, minimalistisch. Ein rasanter Rave.

Die dunkle Seite des Disco-Lichts

„Brat“ spielt mit dem eigenen Legendenstatus, gibt sich maßlos, unantastbar. Auf „Club Classics“ heißt es „I wanna dance to me“, also „Ich möchte zu meiner eigenen Musik tanzen“; auf dem Opener „360“ wiederum „I am your favourite reference baby“, also „Ich bin deine liebste Referenz, Liebes“. Im dazugehörigen Musikvideo tritt die legendäre Schauspielerin Chloë Sevigny auf, während Charli xcx Rotwein auf einem vibrierenden Hometrainer schlürft und auf einem bettlägrigen Patienten herumturnt. Ja, auf „Brat“ blinkt das Disco-Licht noch greller. Aber da ist auch der Tag danach, die Kater-Depression. Wie schon auf ihrem viel beachteten Corona-Werk „How I‘m feeling now“, für das sie Fans aus dem Schlafzimmer heraus beim Entstehungsprozess des Albums mitentscheiden ließ und damit ein kleines Zeitdokument schuf.

„Rewind“ nimmt den eigenen Schönheitsanspruch unter die Lupe, auf „I think about it all the time“ stellt sich die 31-Jährige die Frage, wie viel Zeit ihr noch bleibt, Mutter zu werden. „Girl, so confusing“ beleuchtet brutal ehrlich, wie nahe weibliche Solidarität und Feindschaft beieinanderliegen kann. Der stärkste Song auf dem Album wandelt „Happiness is a warm gun“ von den Beatles in ein säurehaltiges „Sympathy is a knife“ um und thematisiert das Misstrauen, das Charli xcx ereilt, wenn sie auf Partys Freundlichkeiten austauscht. Am Ende des Verses katapultiert sich die Sängerin, umgeben von martialisch-stakkatoartigen Synthbässen, in den wohl aphrodisierendsten Refrain des Jahres. Die French-House-Hommage „Talk Talk“ ist hingegen ein geradezu simpel-verliebtes Sich-danach-Verzehren, mit dem Menschen der Begierde endlich ins Gespräch zu kommen. Ist Charli xcx jetzt also das „cool girl“ oder die schüchterne Maus? Gar nichts von beiden. Sie ist die gute Göre. Und eine der überzeugendsten Stimmen unserer Zeit.

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