Die Dunkelheit schärft die Sinne

Das Walktanztheater und Guy Speyers brachten eine Tanzperformance mit Musik von Georg Friedrich Haas nach Weingarten.
Im Februar 2023 hatten das Walktanztheater von Brigitte Walk, die Choreografin Elisabeth Orlowsky und das Ensemble Plus während der Faschingstage das Dornbirner Kulturhaus in einen magischen Ort verwandelt. Nun waren sie mit dieser Produktion von Georg Friedrich Haas‘ „Solstices“ in der württembergischen Nachbarschaft im Kultur- und Kongresszentrum Weingarten zu Gast
Improvisationsgabe
Zwar konnten sie dort das Licht nicht so weit zurückfahren, wie es sich der im Montafon aufgewachsene Komponist, der seit Jahren in Amerika lebt, wohl gewünscht hätte. Doch das sehr konzentrierte Publikum ließ sich auch dort begeistern von der so besonderen Klangwelt der Mikro- und Obertöne, die das Ensemble Plus rund um die Konzertmeisterin Michaela Girardi, den künstlerischen Leiter Guy Speyers und den Pianisten Martin Gallez am (umgestimmten) Flügel erzeugten. Gemeinsam mit Cello, Kontrabass, Flöte, Bassklarinette, Posaune, Gitarre und einem vielfältig eingesetzten Schlagzeug tauchte das mit Haas‘ Musik bestens vertraute Ensemble in diese Klänge ein.
Das Walktanztheater verwirklichte die weitere Ebene des Tanzes in der vieldeutigen Körpersprache von drei Tänzerinnen und zwei Tänzern. Dass zwei aus der Gruppe wegen Krankheit ausgefallen waren und ein Tänzer einspringen musste, war nicht zu merken – was für die Improvisationsgabe der Ensembles spricht.

Warm und versöhnlich
„Solstices“ (Sonnenwenden) war zunächst ein reines Instrumentalstück, das 2019 im Rahmen der Dark Music Days Reykjavik in kompletter Dunkelheit aufgeführt wurde. Haas widmete es seiner Frau Mollena Williams, die er 2013 am Tag der Wintersonnenwende kennengelernt hatte. Genau ein halbes Jahr später zur Sommersonnenwende heirateten die beiden.
Doch Titel und biografischer Hintergrund haben nicht direkt mit dem Stück zu tun: Tanz und Musik wirken eigenständig, laufen parallel ab, treffen sich an bestimmten Punkten. Manches ist fixiert, manches ist improvisiert. Trotz vorgegebener Klangräume und Tonreihen, scheint eine große Freiheit in der jeweiligen Ausformung zu gelten.

Emotionale Klangkörper
Das Musizieren und Hören in Dunkelheit ist dem Komponisten ein großes Anliegen, man hat es bei verschiedenen Aufführungen etwa im Rahmen der Bregenzer Festspiele oder der Weingartener Tage für neue Musik erlebt. Es öffnet die Ohren, weitet die Konzentration, verschweißt die Musizierenden noch mehr zu einem lauschenden, spürenden, atmenden, emotionalen Klangkörper. Und obwohl die Dunkelheit vielleicht mit eigenen Ängsten und Abgründen konfrontiert, wirken die rein klingenden Obertonreihen doch auch ungeheuer warm und versöhnlich.

Von Stille zu Stille
Die tänzerische Umsetzung durch das Walktanztheater beginnt in Stille und führt in die Stille zurück: Ein Mann tritt in einen Lichtkegel, Zeitlupenbewegung und kurze Impulse betonen die Körperlichkeit, die Lichtgestaltung von Matthias Zuggal verstärkt den Anschein, als würden die Sehnen hervortreten, der Körper transparent werden. Mit zunehmender und vollständiger Dunkelheit schwillt die Musik an, vielfach aufgefächerte Klangflächen von vier Streichern, Flöte, Klarinette, Posaune, Klavier, Gitarre und Schlagzeug finden sich in einer intensiven Wellenbewegung. Was zunächst wie ein vielstimmiger Insektenschwarm klingt, wird allmählich reduziert, zentriert, die Obertonspektren und Akkorde treten in den Vordergrund.
Das Licht kehrt zurück, Menschenknäuel, in Gruppen oder vereinzelt, zwei mit Rabenköpfen, scheinen aus dem nächtlichen Traum herübergekommen zu sein. Die Tänzerinnen und Tänzer suchen, begegnen und finden sich zu Paaren oder Gruppen, lösen sich wieder, der Fluss der Bewegung spiegelt den Fluss der Musik.

Klangballungen und Schrei. Die Fantasie darf sich entfalten, man kann sich aufs Sehen oder aufs Hören konzentrieren, auf die Klangballungen, die manchmal bedrohlich wirkenden hämmernden Rhythmen oder die Entladung in einem Schrei. Der Tanz verdoppelt die Musik nicht, lässt Raum für eigene Interpretationen und Geschichten. Die leichten, transparenten Stoffe in Rot, Schwarz und Beige (Ausstattung: Sandra Munchow), zwei bewegliche Spiegelfolien und die Lichtführung verstärken außerdem das Besondere dieser Produktion.
Katharina von Glasenapp