„Abgrundtiefer Hass auf die Nazis“

Der Wehrmachtssoldat hat zwei Mal die Flucht über den Rhein gewagt.
Albert Polanc wurde 1913 in Feldkirch geboren, wo er mit einem jüngeren Bruder und einer Schwester aufwuchs. Der Vater starb früh. Schon als junger Mann ging Polanc nach London und später einige Jahre nach Paris. Im Herbst 1939 begann mit dem Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg. Polanc’ Bruder Karl war eingezogen worden, kurz danach kam die Todesnachricht.
Es war diese Erfahrung, die die Grundlage für einen lebenslangen „abgrundtiefen Hass auf die Nazis“ bildete, vermutet Karl Polanc, der Sohn von Albert Polanc: „Das hat ihn stark beeinflusst. Von da ab war der Krieg kein Thema mehr.“ Albert Polanc musste dann auch zur Wehrmacht und kam ebenfalls nach Polen und anschließend nach Ex-Jugoslawien.
Kugelhagel
Es war bei einem Heimaturlaub, vermutlich 1944, als Albert Polanc beschloss, nicht mehr zur Truppe zurückzukehren, berichtet der Sohn. Gemeinsam mit einem Freund wollte er in der Nacht den Rhein bei Hohenems überqueren, um in die Schweiz zu gelangen – vorbei an Patrouillen mit Hunden. Als die beiden Männer im Wasser waren, schlugen die Hunde an, und es folgte ein Kugelhagel, den die beiden mit viel Glück unbeschadet überstanden.
Sie erreichten das Schweizer Ufer und kamen zunächst in ein Gasthaus, wo sie freundlich aufgenommen und mit trockener Kleidung versorgt wurden. Bald danach tauchte aber die Fremdenpolizei auf und brachte sie in ein Internierungslager. Das dürfte in Zug gewesen sein, so Karl Polanc. Die Zeit dort habe sein Vater als „sehr schlimm“ empfunden, erinnert sich der Sohn.

Erneute Flucht
Als die beiden Männer mitbekamen, dass der Krieg bald einmal zu Ende sein wird, beschlossen sie, wieder nach Feldkirch zurückzukehren, erzählt Karl Polanc. Es dürfte laut Sohn März oder April 1945 gewesen sein, als sich die beiden auf eine mehrtägige Flucht begaben, mit dem Ziel, bei Buchs über den Rhein nach Liechtenstein zu schwimmen.
Im damals sehr viel Wasser führenden Fluss kam es dann zu einer dramatischen Situation. Nachdem der Freund von Polanc nicht gut schwimmen konnte, wurde er abgetrieben. Mit einem langen Ast gelang es Polanc, ihn aus dem Wasser zu holen und ihm so das Leben zu retten. Die beiden Männer warteten anschließend die Nacht ab und machten sich dann auf den Weg in Richtung Drei Schwestern über den Sarojasattel ins Saminatal hinab.
Im Heu versteckt
Wieder wurden sie von Grenzbeamten entdeckt und mussten erneut im Kugelhagel abwärts stürmen. Wieder hatten sie Glück und gelangten nach Frastanz Maria Grün zu einem Bauer, den sie kannten. Dort konnten sich die beiden Männer im Heu verstecken und wurden auch mit Lebensmitteln versorgt.
Nach einigen Tagen wagte Polanc dann einen Besuch bei Schwester und Mutter in der Vorstadt in Feldkirch. Mit dem Zizife-Ruf, dem Ruf einer Meise, machte er auf sich aufmerksam. Die Wiedersehensfreude war natürlich groß. Die Zeit bis zum Kriegsende haben die zwei Männer dann auf dem Bauernhof verbracht, erzählt Karl Polanc.
„Er hat bei jeder sich bietenden Gelegenheit seine Abneigung gegenüber dem NS-Regime gezeigt.“
Karl Polanc
über seinen Vater Albert Polanc (1913–1985)
Nach Kriegsende
Nach 1945 hat Albert Polanc aufgrund seiner Französischkenntnisse eine Zeitlang als Dolmetscher für die Franzosen gearbeitet, später war er Hotelangestellter in Zürs, Maler, Tankstellenbetreiber und Exekutor beim Landesgericht Feldkirch. 1954 hat er die Montafonerin Gretl Salzgeber geheiratet, 1956 kam sein Sohn auf die Welt, dem er den Namen seines gefallen Bruders gab, später kam noch Tochter Judith dazu.
Albert Polanc hat mit seinem Sohn viel über seine Erfahrungen und Erlebnisse während der NS-Zeit geredet. „Er hat bei jeder sich bietenden Gelegenheit seine Abneigung gegenüber dem NS-Regime gezeigt“, erzählt Karl Polanc. Er erinnert sich an Szenen in seiner Kindheit, in denen sein Vater ehemalige Nazis auch öffentlich damit konfrontiert hat. Schon während der NS-Zeit sei er in einigen Situationen mit viel Glück einer Deportation entkommen.
„Pazifist“
Später hat Albert Polanc seinem Sohn auch jene Stellen gezeigt, an denen er damals den Rhein überquert hatte. „Es war ihm ein Bedürfnis, mir mitzugeben, mich nicht einem derartigen Regime anzupassen“, schildert Karl Polanc dessen Intention. Er beschreibt seinen Vater als einen mutigen, starken und aufrichtigen Mann, der stets zu seiner Meinung gestanden sei, und „er war Pazifist“. Nachteile habe Albert Polanc als Deserteur nach 1945 nicht erfahren, sagt der Sohn: „Er war als Nazi-Gegner bekannt.“
Albert Polanc ist 1985 gestorben. Die Rehabilierung der Wehrmachtsdeserteure hat er nicht mehr erlebt. Die erfolgte erst 20 Jahre später.
Hintergrund: Lazarett – Heimaturlaub – Desertion
Im Frühjahr 2019 gab es in Innsbruck eine Diskussion über ein Erinnerungszeichen für Wehrmachtsdeserteure. Schnell wurde aber festgestellt, dass es darüber noch sehr wenig Wissen gab. Ein Forschungsprojekt wurde initiiert, dessen Leitung der Historiker Peter Pirker vom Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck übernahm.
„Es lag dann auf der Hand, das auch auf Vorarlberg auszuweiten“, sagt Pirker, zumal die beiden Bundesländer damals verwaltungstechnisch in mehreren Bereichen zusammenhingen. Im Herbst des Vorjahres gab es dann den Beschluss der Vorarlberger Landesregierung über eine Mitfinanzierung in der Höhe von 52.000 Euro. Das Gesamtprojekt wurde letztlich noch um Südtirol erweitert.
Übersicht fehlt
Die Corona-Krise hat das Ganze im Frühjahr dann erst einmal um zwei Monate verzögert. Seit Juni ist nun der Vorarlberger studentische Mitarbeiter Aaron Salzmann mit diesbezüglichen Forschungsarbeiten im Landesarchiv beschäftigt. Zwar gab es hierzulande einige Publikationen über Wehrmachtsdeserteure, eine eigentliche Übersicht fehlt aber. Insgesamt dürften zwischen 22.000 und 24.000 Vorarlberger Soldaten in die Wehrmacht einberufen worden sein – wie viele davon desertiert sind, ist allerdings unbekannt.
„Es ist reine Grundlagenforschung, die wir betreiben“, erläutert Pirker. Anhand von Archivrecherche, Interviews und Fallstudien soll ein möglichst umfassendes Bild unter anderem über die Zahl und Situation von Wehrmachtsdeserteuren, ihren Helfern und Familien erstellt werden. Ein Ziel sei es auch, die Bedingungen der Flucht zu erforschen.

Sondergerichtsakten
Salzmann hat erstmals die Sondergerichtsakten im Landesarchiv durchgesehen, in denen er 132 Fälle mit Bezug zu Desertion gefunden hat. Er erzählt auch von wilden Schusswechseln mit Toten an der Schweizer Grenze. Im Landesarchiv wurden auch zwei Listen mit Daten von Fahnenflüchtigen entdeckt. An die 60 Männer aus dem Kreis Bregenz stehen auf der einen, 100 aus anderen Gegenden auf der anderen Liste. Vorarlberger desertierten aber nicht nur im Land, sondern etwa auch in Skandinavien, wo sie als Gebirgsjäger im Einsatz waren.
Ein Muster lasse sich allerdings schon erkennen, sagt Pirker: Lazarett – Heimaturlaub – Desertion. In vielen Fällen wurde der Genesungsurlaub nach einer Verletzung dafür genutzt, nicht mehr zur Truppe zurückzukehren. Und während in Tirol häufig in die Berge geflüchtet wurde, ging es hier meistens über die Grenze in die Schweiz. Wobei es eine Besonderheit von Vorarlberg war, dass aufgrund der Grenznähe nicht nur einheimische, sondern Soldaten von überall her versuchten, in die Schweiz zu gelangen. Die Motive für eine Desertion waren sehr vielfältig, berichtet der Historiker, wobei es eher „ältere“ Männer waren, die flüchteten.
Tradierung
Acht Interviews mit Kindern und Enkeln von Deserteuren sowie Helfern hat Pirker bisher in Vorarlberg geführt. Einer von ihnen war auch Karl Polanc, dessen Vater Albert Polanc desertiert ist (siehe oben). Inhalt des Projekts ist auch die Tradierung, erläutert Pirker, „wie ist die Erfahrung der Desertion in der Familie weitergegeben worden“.
Die Rehabilitierung erfolgte in Österreich ja erst 2005 – zu einem Zeitpunkt, an dem es nicht mehr viel mehr als ein symbolischer Akt war, weil kaum noch direkt Betroffene am Leben waren. Das gesamte Forschungsprojekt ist bis Ende 2022 angelegt. Dann soll es auch in entsprechender Form kommunziert werden.
Wer weitere Hinweise zum Thema liefern kann und möchte, kann sich gern bei peter.pirker@uibk.ac.at melden.