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Problematische Postings und Cybermobbing: Warum Strafen allein keine Lösung sind

14.10.2024 • 06:00 Uhr
Interview Kinder- und Jugendanwalt Christian Netzer
Kinder- und Jugendanwalt Christian Netzer.
Hartinger

Kürzlich sorgte ein Schülervideo am Gymnasium Feldkirch für Aufregung. Kinder- und Jugendanwalt Christian Netzer erklärt, warum Kinder und Jugendliche pornografische Inhalte teilen und Cybermobbing massiv zugenommen hat. Von Strafen allein hält er nichts, er setzt auf


Die Straftaten im Deliktsbereich „Bildliches sexualbezogenes Kindesmissbrauchsmaterial und bildliche sexualbezogene Darstellungen minderjähriger Personen“ haben sich in den letzten zehn Jahren österreichweit fast vervierfacht. Sehen Sie diese Entwicklung auch in Vorarlberg?
Christian Netzer: Zu den polizeilichen Zahlen kann ich nichts sagen. Wir merken aber, dass das Thema deutlich an Bedeutung gewinnt. Es ist wichtig, zu unterscheiden: Handelt es sich um Erwachsene, die kinderpornografische Inhalte verbreiten, oder um Jugendliche, die im Rahmen von Sexting Bilder austauschen. Letztere, also jene Fälle, die im Kontext von Beziehungen auftreten, beschäftigen uns.

Immer mehr Beschuldigte sind selbst noch Kinder. Wie sehen Sie diese Entwicklung?
Netzer: Für viele gehört das Versenden von Nacktbildern im Rahmen von Sexting mittlerweile zum Liebensleben und zur Partnerschaft. Dieses Verständnis fehlt uns vermutlich. Und Kindern und Jugendlichen fehlt oft das Bewusstsein, dass solche Bilder später gegen sie verwendet werden könnten, etwa in Form von Racheaktionen. Diese Inhalte werden dann oft genutzt, um Druck auszuüben, und tragen zur Zunahme von Cybermobbing bei.

Wie entwickeln sich die Zahlen beim Cybermobbing?
Netzer: Die Cybermobbing-Fälle nehmen massiv zu. Früher endete Mobbing, wenn die Schule aus war. Heute begleitet es die Jugendlichen in ihre eigenen vier Wände, da sie über soziale Medien ständig erreichbar sind. Das verstärkt den psychischen Druck auf Kinder und Jugendliche enorm.

Wie schärft man das Rechtsbewusstsein der Kinder und Jugendlichen?
Netzer: Wir stehen hier vor einem gesellschaftlichen Problem. Der Fokus wird oft auf junge Menschen gelegt, dabei sind hauptsächlich Erwachsene von Kriminalität im Internet betroffen. Hinzu kommt, dass viele Erwachsene mit der technischen Entwicklung nicht mehr Schritt halten. Deshalb können sie ihren Kindern oft nicht den richtigen Umgang mit sozialen Medien beibringen. Wir brauchen mehr Präventionsarbeit, sowohl für Jugendliche als auch für Eltern.

Interview Kinder- und Jugendanwalt Christian Netzer
Netzer im Gespräch mit der NEUE am Sonntag. Hartinger

Geben wir unseren Kindern zu früh ein eigenes Handy in die Hand?
Netzer:
Wir haben alle noch keine klaren Erfahrungswerte, was das richtige Alter für ein eigenes Handy betrifft. Wir sind sozusagen Versuchskaninchen. Aus kinderrechtlicher Sicht gibt es zwei wesentliche Punkte: Erstens das Entwicklungsstadium des Kindes, das sehr unterschiedlich sein kann, und zweitens die Kontrolle durch die Eltern. Eltern möchten wissen, wo ihre Kinder sind, und ihnen gleichzeitig alles ermöglichen. Ein weiterer Punkt ist, dass Kinder sich ausgeschlossen fühlen könnten, wenn sie kein Handy haben. In der Volksschule sehen wir oft, dass sich Gruppen nach solchen Kriterien aufspalten. Nur mit Verboten zu reagieren, ist keine Lösung. Natürlich kann ich verstehen, wenn Schulen Verbote aussprechen, aber das bereitet die Kinder nicht aufs Leben vor.

Während Sexting – wie Sie sagen – fast schon was Alltägliches ist, dürfte der Fall, der kürzlich am Feldkircher Gymnasium aufgeschlagen ist, eher besonders sein. (Anm. d. Red.: Ein zwölfjähriger Schüler postete ein Video, das ihn bei sexuellen Handlungen mit einem Achtjährigen zeigt).
Netzer: Wir müssen uns immer die Dunkelziffer vor Augen führen. Phänomene wie „Happy Slapping“, bei dem Gewalt gefilmt und verbreitet wird, sind Beispiele dafür, dass solche Fälle leider Gottes nichts Besonderes mehr sind. Viele Jugendliche sind sehr zurückhaltend, derartige Vorfälle zu melden, weil sie wissen, dass das immer Konsequenzen nach sich zieht. Es gibt vermutlich viele Fälle, die nie gemeldet werden.

Was passiert, wenn ein Fall mit Strafunmündigen aktenkundig wird?
Netzer: In erster Linie sind die Obsorgeträger, also die Eltern, gefragt. Sie müssen Maßnahmen ergreifen, um zu verhindern, dass sich ein solcher Vorfall wiederholt. Meistens steckt bei Jugendlichen keine kriminelle Energie dahinter, sondern Unüberlegtheit, Gruppenzwang oder die Jagd nach Likes. Diese Kinder und Jugendlichen brauchen Unterstützung, um zu verstehen, welche Konsequenzen ihr Handeln hat. Wenn das nicht ausreicht, hat die Kinder- und Jugendhilfe den gesetzlichen Auftrag, einzuschreiten – und im Notfall auch Maßnahmen zu ergreifen.

Wie vermitteln Sie den Jugendlichen, die sich bei Ihnen melden, die rechtliche Verantwortung?
Netzer: Unsere Aufgabe ist es, ihnen zu helfen, die Konsequenzen ihres Handelns besser zu verstehen und daraus zu lernen. Viele von ihnen wissen bereits, dass ihr Verhalten nicht in Ordnung war.

Letztens wurde auch wieder intensiv die Herabsetzung der Strafmündigkeit diskutiert. Was halten Sie davon?
Netzer: Aus kinderrechtlicher Sicht widerspricht das den Prinzipien, die wir als Gesellschaft etabliert haben. Es geht nicht darum, junge Menschen härter zu bestrafen, sondern darum, zu verstehen, warum sie sich so verhalten. Statt die Strafmündigkeit herabzusetzen, sollten wir uns auf Prävention und die Verantwortung der Eltern konzentrieren. Der strafrechtliche Ansatz allein wird das Problem nicht lösen und führt nicht dazu, dass junge Menschen ihr Verhalten nachhaltig ändern.

Interview Kinder- und Jugendanwalt Christian Netzer
Christian Netzer. hartinger

„Wir haben die digitale Welt erschaffen und an die Jugend übergeben – jetzt wissen wir nicht mehr, wie damit umzugehen ist.“

Welche Alternativen zu strafrechtlichen Maßnahmen halten Sie für sinnvoll?
Netzer: Erste kleine Schritte sind bereits getan, wie die Einführung der „Digitalen Grundbildung“ als Unterrichtsfach sowie Workshops, die die rechtlichen Konsequenzen thematisieren. Es ist wichtig, Kinder und Jugendliche früh zu sensibilisieren und auch die Eltern einzubeziehen. Jedes Kind ist individuell. Der Maxi ist anders als der Mustafa, und die Tina ist anders als die Aische. Strikte Grenzen funktionieren hier vermutlich nicht. Es geht darum, auf Prävention zu setzen und den Kindern die Folgen ihres Handelns aufzuzeigen. Darüber hinaus muss es für die Kinder- und Jugendhilfe Möglichkeiten geben, früher unterstützend einzugreifen.

Ein Problem, gerade im Bereich der Pornografie, sind auch die Altersbeschränkungen, die leicht zu umgehen sind. Oft reicht ein Klick.
Netzer: Im Kino gibt es Altersfreigaben, und man kann mit Handys ein Auto aufschließen, aber beim digitalen Jugendschutz sind wir hilflos. Hier müsste auf EU-Ebene ein Schritt gemacht werden. Beim physischen Jugendschutz, wie etwa beim Rauchen, sind wir auf dem richtigen Weg, aber beim digitalen Jugendschutz hinken wir hinterher. Wir haben die digitale Welt erschaffen und an die Jugend übergeben – und jetzt wissen wir nicht, wie wir damit umgehen sollen.

Was sagen sie zum Vorurteil, dass Jugendliche, die problematische Inhalte teilen oder sexuell übergriffig werden, häufiger aus sozial schwächeren Schichten kommen?
Netzer: In vielen Fällen wurden wir eines Besseren belehrt. Jugendliche aus allen sozialen Schichten sind in der digitalen Welt aktiv. Eltern verlieren oft die Kontrolle darüber, was ihre Kinder im Netz tun, unabhängig von ihrem sozialen oder wirtschaftlichen Hintergrund. Die Kinder sind uns da einen Schritt voraus.

Hat sich beim Anzeigeverhalten der Eltern etwas geändert?
Netzer: Wir beobachten, dass Eltern heute schneller rechtliche Schritte einleiten, wenn sie ihr Kind als Opfer sehen. Oft geht es dabei um Fragen der Haftung und Verantwortung. Eltern wollen ihre Kinder verständlicherweise schützen, doch das kann schnell zu Überbehütung führen. Es ist eine Gratwanderung zwischen Schutz und Eigenverantwortung.

Zur person

Christian Netzer (Jg. 1979) ist seit Mai 2022 Kinder- und Jugendanwalt . Zuvor war er langjähriger Leiter der Abteilung Kinder- und Jugendhilfe der Bezirkshauptmannschaft Bludenz. Netzer absolvierte nach dem Abschluss einer handwerklichen Lehre von 1999 bis 2001 die Ausbildung zum Gendarmerie-, Polizeibeamten, absolvierte nebenberuflich ein Jus-Studium, ein Masterstudium in General Management.