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Emotionaler Kampf um anonym geborene Malena

09.02.2025 • 06:54 Uhr
Heike Summer und Rene Grämer-Summer, die ihr Pflegekind wieder hergeben mussten
Heike Summer und René Grämer-Summer brachten es noch nicht übers Herz, das Kinderzimmer ihres ehemaligen Pflegekindes auszuräumen. Rhomberg

Jährlich werden in Österreich rund 30 Kinder anonym geboren. Meist werden sie adoptiert, doch in seltenen Fällen fordern die leiblichen Eltern sie zurück – so wie bei der kleinen Malena, die im Krankenhaus Dornbirn zur Welt kam. Ihre einstigen ­Pflegeeltern erheben nun schwere Vorwürfe gegen die Behörden und klagen nun das System an.


Einen Tag, bevor die Welt von Heike Summer und ihrem Mann René zusammenbrach, sagte Malena zum ersten Mal „Mama“ und „Papa“. Es war ein Moment des Glücks – und doch auch einer, der beinah unerträglich war. „Es hat uns das Herz gebrochen. Weil wir wussten, wie die Verhandlung am nächsten Tag ausgehen wird.“ 15 Monate lang hatte das Paar aus Feldkirch die kleine Malena umsorgt und geliebt. Sie hatten dem quirligen Mädchen beim Wachsen zugesehen, ihre ersten Schritte begleitet, sie getröstet und in den Schlaf gewiegt. Nun mussten sie es hergeben – ob sie wollten oder nicht.


Malena wurde im März 2023 im Krankenhaus Dornbirn geboren. Ihre Mutter war Hunderte Kilometer aus einem anderen Bundesland nach Vorarlberg gefahren, um ihr Baby anonym auf die Welt zu bringen.
Seit 2001 haben Frauen in Österreich die Möglichkeit, in einer Notlage anonym in einem Krankenhaus zu entbinden, ohne ihre Identität preisgeben zu müssen. Ziel ist es, heimliche und unbetreute Geburten oder Kindesweglegungen zu verhindern. Österreichweit gibt es jährlich etwa 30 anonyme Geburten, in Vorarlberg sind es meist zwei.

Emotionaler Kampf um anonym geborene Malena
Malena – diesen Namen gaben ihr die Pflegeeltern – wurde anonym im Krankenhaus Dornbirn geboren. Privat

„Ich fahre heim, ich lasse es euch da“.

Auch Malenas Mutter, eine Landwirtschaftsingenieurin und Labortechnikerin mit Bachelor­abschluss in Produktmarketing und Projektmanagement, entschied sich für diesen Weg. Sie war bereits Mutter zweier Kinder, als sie erneut schwanger wurde. Doch diesmal fühlte sie sich überfordert. Wie aus den Gerichtsakten hervorgeht, hatte sich der Kindsvater zurückgezogen, familiäre Unterstützung war nicht zu erwarten – ganz im Gegenteil: Auf dem abgelegenen Bauernhof, den sie mit ihren Eltern bewirtschaftet, soll es zu massiven Konflikten gekommen sein. Eine polizeiliche Wegweisung des Vaters der Kindsmutter ist dokumentiert. Es sei ihr damals einfach alles zu viel geworden, schilderte die Mutter dem familienpsychologischen Gutachter im Obsorgeverfahren.

Doch die Mittdreißigerin haderte von Beginn an mit der Entscheidung, ihr Kind wegzugeben. Sie blieb länger als üblich im Krankenhaus und erkundig­te sich nach alternativen Möglichkeiten. Schließlich verließ sie die Klinik ohne das Baby, das sie wenige Tage zuvor zur Welt gebracht hatte. „Ich fahre heim, ich lasse es euch da“, sagte sie den Mitarbeiterinnen der Kinder- und Jugendhilfe.

Heike Summer und Rene Grämer-Summer, die ihr Pflegekind wieder hergeben mussten
Heike Summer und Rene Grämer-Summer im Gespräch mit der NEUE am Sonntag. Rhomberg

Zwei Fälle jährlich in Vorarlberg

In Vorarlberg übernimmt in solchen Fällen die Bezirkshauptmannschaft Bludenz die Obsorge des Kindes. Seit 2020 ist die Behörde landesweit für Inlandsadoptionen zuständig (siehe rechte Spalte). Die dortige Kinder- und Jugendhilfeabteilung kümmert sich darum, dass das Neugeborene in eine geeignete Pflegefamilie kommt und wählt Adoptivwerber aus, die den strengen Kriterien des Adoptionsverfahrens entsprechen. Die leibliche Mutter hat sechs Monate Zeit, ihre Anonymität aufzuheben und die Rückführung zu beantragen. Erst wenn diese Frist verstreicht, wird das Kind endgültig zur Adoption freigegeben. In den allermeisten Fällen bleibt es dabei.

Schicksalsschläge

Heike Summer (46) und René Grämer-Summer (56), seit Jahren als Adoptivwerber registriert, wurden kurz nach Malenas Geburt kontaktiert und gefragt, ob sie sich vorstellen könnten, das Kind zu adoptieren. „Wir haben uns unglaublich gefreut und ohne zu zögern zugesagt“, erinnert sich Heike Summer im Gespräch mit der NEUE am Sonntag. Die studierte Biologin – sie promovierte an der ETH Zürich in Molekularbiologie und Biophysik und arbeitet als Amtsleiterin in Appenzell (CH) – hatte bereits mehrere Schicksalsschläge hinter sich: Nach einer Fehlgeburt, einer verpfuschten Kürettage (Ausschabung der Gebärmutter, die bei Heike Summer ein sogenanntes Ashermann-Syndrom verursachte), mehreren Wiederherstellungs-OPs und gescheiterten künstlichen Befruchtungen schien ihr Wunsch nach einem Kind endlich in greifbare Nähe gerückt.

Doch schon kurz darauf hieß es wieder, die Mutter sei noch unschlüssig. „Für mich ist damals eine Welt zusammengebrochen“, erzählt Heike Summer. Trotz dieser Ungewissheit nahmen sie und ihr Mann das Baby in die Krisenpflege auf. Zwar erkundigte sich die leibliche Mutter ein paar Mal telefonisch bei der Kinder- und Jugendhilfe nach dem Kind, doch die Monate verstrichen, und eine Adoption wurde immer wahrscheinlicher. „Wir haben sie ins Herz geschlossen und geliebt wie ein eigenes Kind“, erinnert sich René-Grämer-Summer, der als IT-Berater in Väterkarenz ging und sich hauptsächlich um die kleine Malena kümmerte.

Heike Summer und Rene Grämer-Summer, die ihr Pflegekind wieder hergeben mussten
15 Monate kümmerten sich Heike Summer und ihr Mann René um Malena. Kurz vor der Adoption mussten sie das Kind gehen lassen – trotz dokumentierter Gewalt des Großvaters, der unter einem Dach mit der leiblichen Mutter lebt. Rhomberg


Eine Woche vor dem Auslaufen der Sechs-Monate-Frist – der Adoptionsvertrag war zu diesem Zeitpunkt schon in Vorbereitung und das Kinderzimmer liebevoll eingerichtet – kam die erschütternde Nachricht: Malenas leibliche Mutter hatte offiziell ihre Anonymität aufgehoben und die Obsorge ihres Kindes beantragt. Ein Schock für die Pflegeeltern, zu denen Malena in den vergangenen Monaten eine enge Bindung aufgebaut hatte. „Es hat mir förmlich den Boden unter den Füßen weggezogen. Malena hat davon aber nichts mitbekommen, geweint habe ich abends im Badezimmer“, erinnert sich Heike Summer.

Erziehungsfähig?

Möchte eine Frau nach einer anonymen Geburt ihr Kind zurückhaben, muss das Gericht zunächst klären, ob sie tatsächlich die leibliche Mutter ist. Anschließend wird geprüft, ob die Mutter erziehungsfähig ist und eine Rückführung dem Kindeswohl dient oder dieses gefährden könnte. Auf Anraten des Erstrichters beantragten auch Heike Summer und ihr Mann die Obsorge – ein eher ungewöhnlicher Fall, zu dem sich keine vergleichbare Rechtsprechung finden ließ.
Um die Frage des Kindeswohls zu klären, hat das Bezirksgericht insgesamt zwei familienpsychologische Sachverständigengutachten eingeholt. Das erste kam zu dem Ergebnis, dass die leibliche Mutter grundsätzlich erziehungsfähig sei und keine relevante Kindeswohlgefährdung bestehe. Die zweite Expertise bestätigte diese Einschätzung. Beide Sachverständigen stellten fest, dass Malena ein resilientes, offenes Kind sei, das sich an neue Bezugspersonen gewöhnen könne. Gleichzeitig betonten sie die enge Bindung zu den Pflegeeltern, die nicht abrupt gekappt werden sollte. „Ein Trennungsschmerz wird unausweichlich sein, kann aber durch eine behutsame Übergangsphase abgemildert werden“, hieß es.

Heike Summer und Rene Grämer-Summer, die ihr Pflegekind wieder hergeben mussten
Heike Summer und Rene Grämer-Summer erheben schwere Vorwürfe gegen das zuständige Gericht und die Behörden.Rhomberg

Gerichtlicher Vergleich

„Aus Selbstschutz“ stimmten die Pflegeeltern im Juni 2024 einem gerichtlichen Vergleich zu, der die Obsorge vollständig auf die leibliche Mutter übertrug. „Das Gericht wollte uns trotz der Einspruchsfrist von zwei Wochen, welche wir für einen Rekurs des Beschlusses benötigt hätten, die Rückführung anordnen. Das hat unsere Kräfte überstrapaziert. Wir konnten einfach nicht mehr“, sagt Heike Summer. Auf die von den Psychologen empfohlene Rückführungsphase – insgesamt waren 27 Stunden vorgesehen – verzichteten sie. Unter Tränen fuhr das Paar von der Verhandlung nach Hause und übergab Malena noch am selben Tag den Mitarbeiterinnen der Kinder- und Jugendhilfe.

Vorwürfe gegen Behörden

Im Gespräch mit der NEUE am Sonntag erheben Heike Summer und René Grämer-Summer nun schwere Vorwürfe gegen die Behörden und involvierten Institutionen. Das Verfahren sei von Schikanen, Behördenwillkür und mangelnder Transparenz geprägt gewesen. Ihre Bedenken seien ignoriert worden, die Entscheidung sei längst festgestanden. „Für die BH, das Gericht und den Gutachter spielte die Gewalt in der Familie der Kindsmutter offenbar keine Rolle. Das Kindeswohl blieb unberücksichtigt und auch die feste Bindung, die wir zum Kind hatten“, beklagt René Grämer-Summer. Seine Kritik richtet sich auch gegen das IfS, das die Besuchskontakte begleitete. „Das IfS wird von der Kinder- und Jugendhilfe instruiert. Nach der ersten Verhandlung wurden wir nicht mehr informiert, die Akteneinsicht wurde uns verweigert, stattdessen drohte man uns sofort mit dem Rechtsdienst.”Auch der Gutachter sei nicht unabhängig gewesen und habe im Sinne des Gerichts gearbeitet.

Heike Summer und Rene Grämer-Summer, die ihr Pflegekind wieder hergeben mussten
Heike Summer und Rene Grämer-Summer, die ihr Pflegekind wieder hergeben mussten

Die Besuchskontakte zwischen Malena und der Mutter, die vom IfS maximal ausgereizt worden seien, empfanden die Pflegeeltern ebenfalls als belastend – vor allem für das Kind. Malena habe danach schlechter geschlafen, sei anhänglicher und ängstlicher gewesen. Ein weiteres Problem sehen sie in der Dauer des Verfahrens. „Der Entscheid über den Verbleib des Kindes sollte innerhalb von sechs Monaten gefällt sein und die Frist, in der Mütter ihre Anonymität aufheben können, auf drei Monate verkürzt werden“, so der Wunsch der Pflegeeltern.

Heute, sieben Monate nachdem sie Malena gehen lassen mussten, ist ihr Kinderzimmer noch immer unangetastet. Die bunten Wandaufkleber sind noch da, das Gitterbett, die Kuscheltiere. Die Sachen wegzuräumen, haben die ehemaligen Pflegeeltern noch nicht übers Herz gebracht. Sie denken oft an Malena – und hoffen, dass es ihr gut geht, dort, wo sie jetzt lebt.

Das sagt die Kinder und Jugendhilfe

Die für Inlandsadoptionen zuständige Kinder- und Jugendhilfe der Bezirkshauptmannschaft Bludenz sieht sich im Fall Malena mit schweren Vorwürfen konfrontiert (siehe links). Abteilungsleiterin Daniela Walter darf sich aufgrund der Verschwiegenheitspflicht zu Einzelfällen nicht öffentlich äußern. Sie könne die Enttäuschung und Belastung der betroffenen Pflegeeltern grundsätzlich nachvollziehen, sagt die Juristin, weist aber auf Anfrage darauf hin, dass Obsorge-Entscheidungen nicht in ihrer Abteilung getroffen werden, sondern vom örtlich zuständigen Bezirksgericht. Der Ausgang eines solchen Verfahrens hänge grundsätzlich von der Erziehungsfähigkeit der leiblichen Mutter ab.

Sie verweist zudem auf die UN-Kinderrechtskonvention, nach der jedes Kind das Recht hat, bei seinen Eltern aufzuwachsen, sofern deren Erziehungsfähigkeit gegeben ist. Trotz der Kritik an ihrer Abteilung betont sie: „Adoptionen sind eine Herzensangelegenheit für uns. Das Wohl des Kindes steht immer im Mittelpunkt.“

Adoptivwerbende würden während des gesamten Prozesses umfassend begleitet und darauf hingewiesen, dass eine leibliche Mutter ihre Anonymität innerhalb der ersten sechs Monate nach der Geburt aufheben kann. „Das wird immer wieder thematisiert, damit Adoptivwerber sich der rechtlichen Situation bewusst sind“, erklärt Walter.