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Jung, radikal und auf Bewährung

19.02.2025 • 06:00 Uhr
Interview mit Johannes Pircher-Sanou, Leiter Neustart, über Missbrauchsdarstellungen und Jugendliche
Johannes Pircher-Sanou ist seit drei Jahren Leiter von Neustart Vorarlberg. Klaus Hartinger

Der Anschlag in Villach schockiert. Wie die Bewährungshilfe in Vorarlberg mit islamistisch radikalisierten Tätern arbeitet, erklärt Neustart-Leiter Johannes Pircher-Sanou.

Waren Sie bei Ihren Klienten schon mal mit radikal-islamistischen Ideen konfrontiert?
Johannes Pircher-Sanou: Wir haben sehr wenige Klienten und Klientinnen, die nach dem Paragraf 278b – terroristische Vereinigung – verurteilt sind. Seit ich da bin, in den letzten drei Jahren, hatten wir das aber auch schon.

Wie arbeiten Sie mit denen?
Pircher-Sanou: Grundsätzlich ist es so, dass der Klient zu uns kommt, weil er entweder aus der Haft vorzeitig entlassen worden ist oder das Gericht ihn zu einer bedingten Freiheitsstrafe verurteilt hat und er als Anordnung Bewährungshilfe bekommt. Er wird dann von speziell ausgebildeten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern betreut. Diese setzen sich dann in der Regel drei bis fünf Jahre mit ihm auseinander. Dabei gibt es einen bestimmten Ablauf. So werden diese Klienten besonders intensiv betreut.

Was heißt intensiv?
Pircher-Sanou: Ein persönlicher Kontakt in der Woche ist die Mindestanforderung. Bei Bedarf können es aber auch mehr sein. Ganz wichtig ist eine Risikoeinschätzung.

Wie erfolgt die?
Pircher-Sanou: Dafür haben wir ein wissenschaftlich basiertes Tool, um zu schauen, wie sich der Klient in Hinblick auf eine Radikalisierung in Richtung extremistische Gewalt entwickelt. Wir machen weiters eine sogenannte Verhaltensanalyse. Da schauen wir, ob es äußerliche Veränderungen beim Klienten gibt, etwa Bartwuchs oder bestimmte Kleidung, oder auch Veränderungen im Alltag.

Zum Beispiel?
Pircher-Sanou: Wenn bisherige Gewohnheiten wie Tabak- oder Alkoholkonsum abgelegt werden, keine westliche Popmusik mehr gehört wird oder auch ein Bruch mit Familie oder Freunden erfolgt. Das sind Warnzeichen. Wir achten aber auch darauf, ob es Veränderungen in der Betreuung gibt. So kann es beispielsweise vorkommen, dass der Klient sagt, er möchte mit keiner Frau, keiner Bewährungshelferin mehr zusammenarbeiten.

Wie reagieren Sie darauf?
Pircher-Sanou: Das wird thematisiert. Die Mitarbeiterin holt dann Unterstützung bei der speziell ausgebildeten Abteilungsleitung oder der Einrichtungsleitung. Wir versuchen dann zu schauen, ob das nur ein Aspekt ist, jemand einen Betreuungswechsel möchte oder ob mehr dahintersteckt. Wir arbeiten aber auch bundesländerübergreifend.

Interview mit Johannes Pircher-Sanou, Leiter Neustart, über Missbrauchsdarstellungen und Jugendliche

Was passiert in Ihrer Arbeit noch?
Pircher-Sanou: Ein ganz wichtiger Teil ist auch die Biografiearbeit. Wir schauen, wo es einen Bruch in der Biografie gegeben hat, ein Schlüsselereignis passiert, weshalb die Person sich einer bestimmten Ideologie zugewandt. Wir machen auch Deliktverarbeitung.

Wie schaut die aus?
Pircher-Sanou: Wir analysieren die Ursachen für die Straftat, beispielsweise, wenn jemand in Chats IS-Ideologie verbreitet, oder sich als Anhänger meldet. Wir schauen uns dann die Konsequenzen aufgrund des Fehlverhaltens an, was für Handelsalternativen es geben würde und was getan werden kann, um nicht mehr rückfällig zu werden. Und wie wir jetzt im aktuellen Fall in Villach sehen, ist es total wichtig, die Medienkompetenz zu stärken.

Die Radikalisierung des Villach-Attentäters soll ja innerhalb kürzester Zeit online erfolgt sein.
Pircher-Sanou: Es nimmt immer mehr zu, dass vor allem junge Menschen in den Sozialen Medien radikalisiert werden. Es ist nicht mehr so wie vor fünf, sechs Jahren, dass man vorwiegend durch Kontakte in Moscheen, in Hinterhöfen Anschluss an Sympathisanten gefunden hat. Jetzt passiert das bei TikTok mit einem Algorithmus. Daher versuchen wir in der Medienkompetenz das kritische Denken zu fördern, das heißt, den Personen Unterstützung anzubieten, damit sie manipulative Inhalte erkennen.

Die Bewährungshilfe versucht also auch, Medienkompetenz zu fördern?
Pircher-Sanou: Ja. Dabei kann es sein, dass jemand aufgrund von einem anderen Urteil bei uns ist, aber wir eine Verhaltensänderung in Richtung Extremismus merken. So einen Fall haben wir gerade. Da schauen wir dann auch genau hin. Diese Menschen treten ja nicht immer aufgrund einer Verurteilung nach dem Paragraf 278b in Erscheinung. Wichtig ist auch die Arbeit mit dem sozialen Umfeld.

Was passiert da?
Pircher-Sanou: Wir arbeiten mit dem Elternhaus, dem Freundeskreis. Man schaut, ob es vielleicht einen pro-kriminellen Freundeskreis gibt. Wir machen auch Hausbesuche, um das Umfeld abzuklären. Manche haben ja Fahnen aufgehängt oder einschlägiges Material zu Hause. Ganz wichtig ist aber, dass man an der existenziellen Grundsicherung und Integration arbeitet. Wenn jemand wenig Perspektiven im Land hat und sich ausgegrenzt fühlt, ist er natürlich ansprechbarer für eine Radikalisierung.

Zur Person

Johannes Pircher-Sanou
Geboren 1989 in Bregenz, aufgewachsen in Andelsbuch. HAK Bezau, Sozialarbeit an der FH Campus Wien. Masterstudium Kriminologie an der Uni Hamburg. Tätigkeiten in der Justizanstalt Wien-Simmering, der Justizanstalt Feldkirch, im LKH Rankweil und beim Vorarlberger Familienverband. Seit Juni 2022 Leiter von Neustart. Lebt mit seiner Familie in Dornbirn.

Gibt es auch Fälle, bei denen Sie sich an die Polizei wenden?
Pircher-Sanou: Von unserer Seite gibt es nur eine Meldung an die Sicherheitsbehörde, in diesem Fall die Direktion für Staatsschutz und Nachrichtendienst, wenn es eine akute Selbst- oder Fremdgefährdung gibt. Wenn wir sehen, dass es einen Gefährdungsmoment gibt, dann müssen wir rasch handeln, dann verständigen wir natürlich die Behörden.

Haben Sie sich schon mal an den Staatsschutz wenden müssen?
Pircher-Sanou: In Vorarlberg nicht, aber wir haben hier wirklich sehr wenige Personen mit islamistischem Hintergrund. Rechtsextreme, die wir betreuen, haben wir mehr – derzeit etwa eine Handvoll, Islamisten aktuell keinen.

Jung, radikal und auf Bewährung

Was ist, wenn ein Klient bei Ihrem Programm nicht mitmacht?
Pircher-Sanou: Da haben wir eine enge Kooperation mit dem Gericht. Wenn wir merken, dass sich der Klient von uns abwendet, können wir ihn förmlich bei Gericht mahnen oder wir regen Weisungen an, etwa eine bestimmte Beratung oder ein Therapieangebot. Wir versuchen mit allem präventiv entgegenzuwirken, dass er sich radikalisiert.

Wie viele Spezialistinnen für ideologische Beeinflussungen, Radikalisierungen gibt es bei Ihnen?
Pircher-Sanou: Je eine an den Standorten Bregenz und Feldkirch und eine spezialisierte Abteilungsleitung. Wenn wir weitere Unterstützung brauchen, haben wir Experten für Extremismusprävention in Wien.

Ist ein Attentat wie jenes zuletzt in Villach in Ihrer Arbeit bei Ihren Klienten ein Thema?
Pircher-Sanou: Wenn es von Klienten thematisiert wird, dann unterstützen wir sie, damit einen Umgang zu finden. Dass jemand sagt, das finde ich super, das war gut, kommt selten vor – und falls doch, dann greifen wir das auf und arbeiten intensiv an der Einstellung dazu.