Wenn Pfiffikus und Dagmar vorlesen, sind alle ganz Ohr

16.12.2023 • 22:57 Uhr

Dagmar Bayer-Bösch fesselt Kinder mit Geschichten. Als Lesepatin bei der Caritas lebt sie ihr eigenes Hobby aus und tut gleichzeitig Gutes.

Es ist eine echte Superkraft, die Dagmar Bayer-Bösch hat: Sie fesselt Kinder mit Büchern und Geschichten. Allein mit ihrer Stimme. Und mit der Hilfe ihrer beiden Freunde Pippilotta und Pfiffikus. Dagmar ist Lesepatin bei der Caritas. In dem Ehrenamt lebt sie ihr eigenes Hobby aus, das Lesen, und tut dabei auch noch Gutes.

Sprechende Handpuppen

Pfiffikus ist ein Leserabe.
Pfiffikus ist ein Leserabe.

„Vielen Kindern wird heute nicht mehr vorgelesen, dabei ist das so wichtig“, ärgert sich die Wahl-Vorarlbergerin. Weil sie schon immer gern gelesen hat und dann auf die Schulung der Caritas gestoßen ist, hat sie sich entschieden, Vorlesepatin zu werden. Bei der Schulung geben Mitarbeitende der Caritas Informationen zu den verschiedenen Entwicklungsstufen der Kinder, Vorlesetechniken und auch möglichen Hilfsmitteln. „Meine Kuscheltiere konnten schon immer sprechen“, lacht Bayer-Bösch und meint: „Da war es für mich naheliegend, dass ich dann auch die Empfehlung der Handpuppen ernst nehme.“ Die Geburtsstunde von Pippilotta und Pfiffikus hatte geschlagen.

Pfiffikus ist ein kleiner Handpuppen-Vogel. Er hilft ihr beim Vorlesen und entlockt der Vorlesepatin „eine freche Seite, die ich sonst in meiner Rolle nicht zeigen könnte“. Insbesondere kleinere Kinder lieben das Vorlesetier, erzählt sie. „Man muss aber aufpassen. Manchmal zieht er alle Aufmerksamkeit der Kinder auf sich.“ Dann müsse sie Pfiffikus immer mal wieder in den Hintergrund rücken lassen, damit die Kinder wieder aufmerksam ihren Geschichten lauschen.

Besuche auch in Kitas

Die beiden sind ein super Team. <span class="copyright">Hartinger</span>
Die beiden sind ein super Team. Hartinger

Als Vorlesepatin ist Bayer-Bösch sowohl in Privathaushalten als auch in der Bibliothek Lustenau und verschiedenen Kindertageseinrichtungen tätig. Ihre Zuhörerinnen und Zuhörer sind in der Regel zwischen drei und sieben Jahre alt. Die Erzählweise und auch die Buchauswahl muss sie daher jedes Mal situativ anpassen. „Bei den ganz Kleinen erzähle ich gern einfach Geschichten zu den Illustrationen in den Bilderbüchern. Die Texte sind oft zu lang und komplex.“ Bei den Größeren hingegen sei es wichtig, Spannung aufzubauen und sie mit in die Geschichte hineinzuziehen. Welche Bücher die Lustenauerin vorliest, ist ganz unterschiedlich. „Es gibt so viele schöne Bilderbücher. Ich bin selbst ein Riesen-Fan und sammle sie“, erzählt sie und strahlt dabei.

Dass sie heute gern vorliest, kommt nicht von ungefähr. Auch ihr wurde im Kindesalter vorgelesen. Heute liest rund ein Drittel aller Eltern ihren Kindern nur selten oder nie vor. Das geht aus einer Studie der Stiftung Lesen hervor. Fast 50 Prozent aller Eltern oder Großeltern geben an, es mache ihnen keinen Spaß, vorzulesen. Hinzu kommt, es mangelt vielen Haushalten an Vorlesestoff. Ein Drittel der Eltern gab an, dass ihre Kinder maximal zehn Bücher daheim haben. Mehr als die Hälfte der Eltern findet es aber gut, wenn Kinder Bücher geschenkt bekommen. Und Buchgeschenke erhöhen laut Studie wiederum deutlich die Chance, dass den Kindern vorgelesen wird. Dagmar Bayer-Bösch kann all das nicht verstehen. Sie liebt Bilderbücher und sammelt sie gar. „Mein Mann muss viel mitmachen. Ich habe wahnsinnig viele Bücher“, lacht sie. Vielleicht liest sie also gerade deshalb gerne vor.

Vorlesen ist auf der einen Seite Beziehungsarbeit, auf der anderen Seite fördert es den Spracherwerb und das Vorstellungsvermögen sowie die Kreativität der Kinder. Auch neues Wissen können Kinder über ­Geschichten besser aufnehmen. Das hilft ihnen in ihrem späteren Weltverständnis. „Mir ist es wichtig, wenn ich beispielsweise der Enkelin meines Mannes vorlese, dass wir die Geschichte reflektieren. Insbesondere Pippi Langstrumpf hat Stellen, die mit Sklaverei zu tun haben, in dem damaligen Weltverständnis aber noch nicht richtig eingeordnet wurden.“ Weil ihr die Geschichte aber auch weiterhin gefällt, liest sie das Buch trotzdem vor und spricht danach mit der heute Elfjährigen über die ­Problematiken. Bei den ­Kleinkindern ist bei solchen Themen etwas mehr Vorsicht geboten.

Vorlesen ist auf der einen Seite Beziehungsarbeit, auf der anderen Seite fördert es den Spracherwerb und das Vorstellungsvermögen sowie die Kreativität der Kinder. Auch neues Wissen können Kinder über ­Geschichten besser aufnehmen. Das hilft ihnen in ihrem späteren Weltverständnis. „Mir ist es wichtig, wenn ich beispielsweise der Enkelin meines Mannes vorlese, dass wir die Geschichte reflektieren. Insbesondere Pippi Langstrumpf hat Stellen, die mit Sklaverei zu tun haben, in dem damaligen Weltverständnis aber noch nicht richtig eingeordnet wurden.“ Weil ihr die Geschichte aber auch weiterhin gefällt, liest sie das Buch trotzdem vor und spricht danach mit der heute Elfjährigen über die ­Problematiken.

Bei den ­Kleinkindern ist bei solchen Themen etwas mehr Vorsicht geboten.

Sozialkompetenzen lernen

Sozialkompetenzen lernen. „Da setze ich den Fokus lieber auf Sozialkompetenzen, wie etwa das Teilen, sich gegenseitig helfen oder auch Ängste zuzulassen und zu bewältigen.“ Im November haben sich alle Vorlesepatinnen und -paten in Lustenau in einem der regelmäßigen Treffen auch darüber Gedanken gemacht, das Thema Trauer mit in die Kindergruppen zu nehmen. „Insbesondere solch schwere Themen, mit denen Kinder früher oder später konfrontiert werden, lassen sich den Kindern gut in Form von Geschichten näher bringen“, so die Wahl-Vorarl­bergerin.

Kinder lernen viel aus Büchern. <span class="copyright">Hartinger</span>
Kinder lernen viel aus Büchern. Hartinger

Für einige Zeit hat Dagmar Bayer-Bösch zwei türkischen Mädchen vorgelesen. Ihre Eltern konnten kaum Deutsch, und auch die Mädchen taten sich mit dem Verstehen schwer. „Da hilft es, wenn ich als Stütze fungiere“, erklärt sie. Durch Mimik und Gestik und teilweise vereinfachter Sprache sei es für die Kinder leichter, ihr zu folgen. „Man merkt schnell Fortschritte. Das ist schön zu sehen“, so die Leseratte. Sprachforscherinnen und -forscher gehen davon aus, dass Kinder schneller Sprachen lernen als Erwachsene. Die Fähigkeit, eine Aussprache perfekt nachzuahmen, verlieren Kinder mit spätestens sechs Jahren. Danach wird es stetig schwieriger, eine Sprache akzentfrei zu erlernen. Vorlesen kann jüngeren, nicht muttersprachlich Deutsch sprechenden Kindern also helfen, Deutsch akzentfrei zu lernen.

Wer nicht mehr lesen kann

Nicht alle Vorlesepatinnen und -paten lesen aber Kindern vor. Beim „Besuch mit Buch“ stehen Seniorinnen und Senioren im Mittelpunkt, die selbst nicht mehr in der Lage sind, zu lesen. Durch das Vorlesen soll es ihnen möglich sein, wieder am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben und sich auszutauschen. Ob Gedichte oder Zeitschriften gelesen werden, hängt dabei ganz von der besuchten Person ab. „Es ist auch egal, ob die Person im Altersheim oder zu Hause wohnt – beides ist möglich“, erklärt Veronika Winsauer, Koordinatorin der Initiative „Ganz Ohr“ bei der Caritas.

Das Ehrenamt als Vorlesepatin würde Dagmar Bayer-Bösch jedem empfehlen, „der oder die ein wenig Zeit hat und gern liest“. Es sei dabei nicht zwingend nötig, bereits Erfahrung im Umgang mit Kindern oder älteren Menschen mitzubringen. „In den Seminaren versuchen wir, auf möglichst viele Situationen einzugehen“, versichert auch Winsauer. Interessierte lädt sie ein, sich mit ihr in Kontakt zu setzen und eines der Seminare zu besuchen. „Dann strahlen bald noch mehr Augen, weil ihnen vorgelesen wird.“