„Die Erfolgsaussichten waren gering, aber nicht bei null“

Pia Hollenstein ist Gründungsmitglied der KlimaSeniorinnen, die vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erreichten, dass Klimaschutz Menschenrecht wird. Auf Sandra Schochs (Grüne) Einladung war sie in Vorarlberg zu Gast.
Frau Hollenstein, mit dem historischen Urteil Anfang April erreichten Sie und die KlimaSeniorinnen, dass die Schweiz die Menschenrechte der älteren Frauen verletzt, weil das Land nicht das Nötige gegen die Klimaerwärmung tut. Was war der Anstoß, sich 2016 mit diesem Verein zu organisieren?
Pia Hollenstein: Tatsache ist, dass die Schweiz zu wenig gegen den Klimawandel macht. Ich war im nationalen Parlament, und da habe ich erfahren, dass die Bemühungen für das Klima praktisch nie mehrheitsfähig waren. Mit der Erfahrung von „Urgenda“ (die eine verfassungsrechtliche Klima-Klage in den Niederlanden gewannen, Anm.) hat Greenpeace bei einem renommierten Umweltbüro eine Studie in Auftrag gegeben, wie die Klagemöglichkeit in der Schweiz aussieht. In dem Studienbericht wurde aufgelistet, wo die Schweiz ihre klimapolitischen Verfehlungen hat, was sie von Gesetzeswegen tun müsste und was sie nicht tut. Es hieß, um eine Chance vor Gericht zu haben, müssten sich übermäßig Betroffene vereinen. Das sind die älteren Frauen, weil es schon damals wissenschaftliche Studien gab, wonach ältere Frauen von der Klimakrise am meisten betroffen sind. Deshalb gründeten wir einen Verein, in dem ausschließlich Frauen über 64 dabei sind.
In welchen Aspekten sind ältere Frauen stärker vom Klimawandel betroffen als andere Bevölkerungsgruppen?
Hollenstein: Prozentual sterben mehr. Der Kreislauf älterer Frauen erträgt zum Teil Hitze nicht gut. Die Frauen fühlen sich unwohl, haben Blutdruckabfall und erhalten vom Hausarzt die Empfehlung, zu Hause zu bleiben. Dadurch sind ihre Bewegung und ihre zwischenmenschlichen Beziehungen eingeschränkt. Wenn man zu Hause bleiben muss, kann es zudem sein, dass man eine Lungenentzündung oder eine Thrombose bekommt. Das kann zur Embolie und zum Tod führen. Männerkörper ertragen die Hitze physisch besser.
Sandra Schoch: Das heißt nicht, dass ältere Männer nicht auch an den Hitzewellen sterben können. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass ältere Frauen sterben, ist höher. Es gab schon damals wissenschaftliche Studien, die die Übersterblichkeit älterer Frauen bei Hitzewellen belegen.
Frau Schoch, wie sind Sie zum ersten Mal auf die Klimaseniorinnen aufmerksam geworden?
Schoch: Im Landtag bin ich Grüne Seniorensprecherin und auf Einladung von Generation Plus (Seniorenorganisation der Grünen, Anm.) war Pia Hollenstein im Theater Kosmos zu Gast. Da habe ich die Moderation übernommen. Als diese Klage in den Medien durchgeschlagen hat, habe ich mir gedacht, die KlimaSeniorinnen müssen nach Vorarlberg kommen. Also habe ich auf der Vorstandsebene geschaut, wer in der Nähe von Vorarlberg ist, und so bin ich zu Pia Hollenstein gekommen. Ich freue mich sehr, dass wir uns kennengelernt haben und dass wir ein gemeinsames Ziel verfolgen.

Wie lief die Vorbereitung auf den Prozess ab und wie hoch wurden die Erfolgswahrscheinlichkeiten im Vorfeld beurteilt?
Hollenstein: Die Erfolgsaussichten waren gering, aber nicht bei null. Wir gingen in der Schweiz alle rechtlichen Stufen durch. Dort wurden wir durchwegs abgewiesen. An den EGMR zu gehen, hatten wir schon am Anfang im Hinterkopf, denn dort wird entschieden, was Sache ist. Zudem stimmt nicht, was man uns in der Schweiz gesagt hat: „Ihr habt ja Zeit, ihr lebt ja noch.“
Die erste Reaktion auf die Klage war also beschwichtigend?
Hollenstein: „Seid ruhig, wir machen schon viel und wir machen für die Zukunft genug.“ Das war die aus unserer Sicht falsche Analyse.
Wie haben Sie den Prozess am EGMR miterlebt?
Hollenstein: Von Anfang an war klar, dass wir Öffentlichkeit wollten. Wir sind Einladungen gefolgt, bei denen man wissen wollte, was wir tun. Auch haben wir selbst Anlässe organisiert, um zu informieren und Mitglieder zu werben. Schließlich waren 2500 Frauen über 64 bei uns mit dabei. Seit wir in Straßburg bei der Urteilsverkündung waren, sind 1500 Mails bei uns eingegangen. Wir sind noch immer dabei, diese Mails zu beantworten, aber man kann sagen, wir haben viele Anmeldungen von Neumitgliedern erhalten, sodass wir jetzt sicher über 3000 sind. Gegründet hatten wir etwa mit 60 Frauen.

Welche Konsequenzen hat das EGMR-Urteil für die Schweiz?
Hollenstein: Festgestellt wurde, dass die Schweiz erstens zu niedrige Klimaziele gesetzt hat, um das Pariser Klimaabkommen, dem wir zugestimmt haben, zu erreichen. Zweitens werden diese Ziele nicht erreicht, weil es zu wenige Maßnahmen dafür gibt. Also muss die Schweiz die Klimaziele höher setzen und Maßnahmen zu deren Erreichen festlegen. Zudem hat die Schweiz kein wissenschaftlich anerkanntes CO2-Budget. Das muss sie nachholen, denn das Urteil ist eine Verpflichtung. Der Ministerrat muss kontrollieren, was die Schweiz dahingehend tut. Im Übrigen gilt das Urteil für alle Europaratsstaaten. Ein Gewinn ist auch, dass weitere Gruppen klagen dürfen. Innerhalb der KlimaSeniorinnen gab es auch Einzelklägerinnen, die sind aber nicht als zulässig aufgenommen worden.
Schoch: Das Urteil wird unterschiedlich interpretiert. Peter Bußjäger sagt zum Beispiel, dass einzelne Personen auch klagen können. Es gibt in Österreich eine Klage von einem jungen Mann, der aufgrund der Erhitzung in den Rollstuhl gezwungen wird. Der zieht deshalb auch vor Gericht, weil das Nichtstun für ihn einen langsamen Tod bedeutet.
Was bedeutet das Urteil für Österreich?
Schoch: Vielleicht sind manche klimaschädlichen Projekte nach diesem Urteil nicht mehr genehmigungsfähig. Davon gibt es auch in Vorarlberg einige. Zudem steht es jetzt allen NGOs und Vereinen offen, denselben Weg zu gehen. Wir sind den Seniorinnen sehr dankbar, dass sie acht Jahre lang diesen Weg gegangen sind und so was wie einen Pfad geschaffen haben. Daraus könnte sprichwörtlich eine Autobahn werden, wenn es entsprechend viele Klagen in verschiedenen Ländern gibt.
Frau Hollenstein, Sie waren zwischen 1991 und 2006 für die Schweizer Grünen im Nationalrat. Eingangs haben Sie gesagt, Klimaschutzmaßnahmen waren dort nicht mehrheitsfähig. Ändert sich das durch das EGMR-Urteil?
Hollenstein: Das wäre zu hoffen. Aber in den letzten Jahren ist das Schweizer Parlament eher nach rechts gerutscht und hat die Mehrheit, die Grünen Vorstöße abzulehnen. Das ist ein Grund, warum wir nach dem politischen Standbein das juristische genutzt haben.

Wie erleben Sie das in Ihrer politischen Arbeit in Österreich, Frau Schoch?
Schoch: Bei uns ist es so, dass man die Mehrheiten für Grundsatzbeschlüsse findet. In der Stadt Bregenz haben wir zum Beispiel den Klimanotstand ausgerufen. Wenn es aber darum geht, das Parkraummanagement auszuweiten, hapert es. Im Superwahljahr fängt das Klimabewusstsein dann an zu bröckeln, weil man ein paar zusätzliche Wählerstimmen von Autofahrern sieht. Für mich ist das eine Haltungsfrage. Politik ist nichts, was man tut, damit man wiedergewählt wird, sondern damit es den Menschen besser geht.
Welche Konsequenzen drohen, wenn die Schweiz trotz des Urteils nicht zügig wirksame Maßnahmen gegen den Klimawandel umsetzt?
Hollenstein: Es ist offen, wie und mit welchem Tempo die Schweiz das Urteil umsetzt. Wenn sie das nicht tut, bleibt die Tatsache: Die Schweiz verletzt Menschenrechte. Das kann sie sich nicht leisten. Ich gehe so weit, dass ich sage: Vielleicht überlegen sich dann all die Menschenrechtsorganisationen, die von der UNO in Genf stationiert sind, ob sie noch dableiben wollen. In meinen Jahren im Nationalrat hat man alles subito umgesetzt, was vom EGMR kam. Das war zwar nie so weitreichend, aber man wollte sich nie die Blöße geben, dass Menschenrechte verletzt werden.
Frau Schoch, wie sehen Sie die Lage in Österreich?
Schoch: Als EU-Mitgliedsland ist uns die Rute schon ins Fenster gestellt worden. Wenn wir bis 2030 unsere Emissionen nicht um 48 Prozent verringern, müssen wir 4,7 Milliarden Euro Strafzahlungen leisten. Sinnvoller wäre es doch, dieses Geld in den Klimaschutz zu investieren.
Welche nächsten Schritte planen die KlimaSeniorinnen?
Hollenstein: Sicher ist, dass wir unseren Verein nicht auflösen. Wir lassen die 250 Seiten an Urteil von unseren Anwälten überprüfen. Erst dann wissen wir, wie wir wirksam sein können. Schon jetzt machen wir Medienmitteilungen zu politischen Beschlüssen. Vorher waren wir nicht politisch, weil wir gesagt haben, dass wir keine neue Partei sind. Aber nachdem wir auf die politische Schiene verwiesen worden sind, wollen wir auch dort viel aktiver werden.

Apropos Politik: Greta Thunberg reiste für das Urteil nach Straßburg und gratulierte. Wie nehmen Sie ihre Positionierung im Nahost-Konflikt wahr?
Hollenstein: Der Nahost-Konflikt beschäftigt uns als Einzelpersonen natürlich sehr, aber das ist nicht Thema der Klima-Frage. Ich kenne Greta Thunbergs Aussagen auch zu wenig genau, um mich dazu zu äußern. Bei uns war es intern nie Thema. Wir haben uns ja gegründet, bevor sie und die Jugendlichen auf die Straße gegangen sind. Daher hüten wir uns, mit ihr in Verbindung gebracht zu werden.

In Hohenems sorgten am Pfingstwochenende die „Klima-Kleber“ mit Protestaktionen für Verkehrsbehinderungen. Wie sehen Sie die polarisierenden Protestaktionen? Rechtfertigt der Zweck die Mittel oder gehen die Aktivisten zu weit?
Hollenstein: Jede Gruppe muss entscheiden, was sie wollen. Unser Weg ist das nicht. Ich sage denen schon: ‚Überlegt euch, ob ihr damit zum Ziel kommt.‘ Nicht zuletzt vermuten wir in der Schweiz, dass die Grünen fälschlicherweise mit den Klima-Klebern in Verbindung gebracht wurden und dadurch Stimmen verloren haben. Aber sie haben ihre Gründe, das zu tun. Ich würde mir wünschen, dass die Medien nicht einfach sagen, wie viele Klima-Kleber vor wie vielen Autos geklebt haben, sondern ihre Forderungen beleuchten. Das vermisse ich in der Berichterstattung.
Schoch: Ich sehe es analog zum Frauenwahlrecht. Da gab es auch unterschiedliche Gruppierungen, die auf extremerem oder auf gemäßigterem Wege die Frauenrechte vorantreiben wollten. Es war eine Mischung aus beidem, die zu einem gesellschaftlichen Umdenken geführt hat. Das Bestreben der Klimaaktivisten ist ebenfalls, dass die Bevölkerung erkennt, dass die Politik zu wenig tut. Was man sehr wohl thematisieren sollte, ist die Gewalt, die gegenüber Klimaaktivisten zum Ausdruck gebracht wird.
Das war bei den Aktionen am Pfingstwochenende auch der Fall.
Schoch: Da müssen die Medien und die Bevölkerung deutlich machen: Gewalt ist nie eine Lösung, auch nicht, wenn man im Stau steht. Dass Klimaaktivisten mit dem Auto angefahren werden, darf einfach nicht sein. Zudem wird hier das Eskalationspotenzial des Menschen in einer Stresssituation im Stau deutlich. Welches Eskalationspotenzial haben wir, wenn es um Nahrungsmittelknappheit und Wasserknappheit geht? Oder wenn die Frage aufkommt, wen die Feuerwehr zuerst rettet? Das sollte man ernst nehmen.
Klimaseniorinnen
Chronologie
2016 gründeten sich die KlimaSeniorinnen, um die Schweiz aufgrund nicht ausreichender Maßnahmen gegen den Klimawandel zu verklagen. Nachdem sie sich erfolglos durch alle nationalen rechtlichen Instanzen geklagt hatten, gewannen sie im April 2024 vor dem EGMR. Gemäß dem Urteil hat die Schweiz das Recht auf Klimaschutz