„Die Demokratie ist in einer Stressphase“

08.06.2024 • 14:00 Uhr
Julian Nida-Rümelin
Julian Nida-Rümelin im Gespräch mit der NEUE. persson

Der deutsche Philosoph Julian Nida-Rümelin war im Rahmen des „Business Summit“ an der Fachhochschule Vorarlberg zu Gast. Mit der NEUE spricht er über Herausforderungen für die Demokratie und warum er „stolzer Träger“ eines Negativpreises ist.

Gefahren für das demokratische System – Die Krise der Demokratie

Die Demokratie ist gegenwärtig weltweit in einer Stressphase, um nicht zu sagen, in einer Krise“, macht Julian Nida-Rümelin deutlich. „Es gibt die Länder, die schon einmal viel demokratischer waren, beispielsweise die Türkei oder Russland. Die Wahl in den USA wird ein Stresstest für die größte westliche Demokratie.“

Die Gründe dafür ortet der Philosoph an verschiedenen Stellen: „Das hängt zum Teil damit zusammen, dass die Demokratie angesichts großer Herausforderungen über Jahre und Jahrzehnte hinweg nicht so funktioniert hat, wie man es sich wünscht. Ein hochumstrittenes Beispiel ist die Flüchtlingskrise 2015. Da war klar, so kann es nicht weitergehen. Wir haben jetzt, fast zehn Jahre später, die ersten Schritte der EU, eine vernünftige Veränderung in der Migrationspolitik einzuleiten. Das ist viel zu lange.“

Hinzu komme, die Leute hätten das Gefühl, die Politik sei mit den Problemen überfordert. „Gleichzeitig werden in jedem Wahlkampf Illusionen geweckt, was man anders macht, wenn man nur die Richtigen wählt“, zeigt Nida-Rümelin auf.

Kulturkampf

Als letzten Punkt nennt er „eine Art Kulturkampf-Komponente. Viele Menschen sagen, wir müssen anders schreiben und reden, wir müssen in jedem Gremium Diversität schaffen. Das ist in den meisten Fällen gut motiviert, aber es gibt einen Teil der Bevölkerung, der fühlt sich nicht mitgenommen. Dieser Kulturkampf wird von links begonnen und von rechts aufgegriffen, und wird, wie Trump oder die FPÖ zeigen, zu einer starken Position einer neuen Rechten.“ Diese trete am Beginn populistisch auf, werde aber dann rechtsradikal.

Verschwörungstheorien – Online schnell verbreitet

In Krisenzeiten haben sich Teile der Bevölkerung Verschwörungstheorien verschrieben. In ihrer Blase sind diese Menschen unter Gleichgesinnten und kapseln sich vom Rest der Gesellschaft ab. Diese Entwicklung ist für Julian Nida-Rümelin nicht neu: „Verschwörungstheorien gab es immer schon. Der Unterschied ist, dass sie sich über soziale Medien heute sehr leicht verbreiten. Man kann sich mit entsprechenden Emotionalisierungen ein breites Publikum sichern.“

Auch andere Entwicklungen haben für den Philosophen hin zu den Verschwörungstheorien geführt: „Wir sind in der Corona-Krise nicht immer klug mit den Konflikten und den unterschiedlichen Einschätzungen umgegangen. Die Menschen fühlten sich durch Maßnahmen wie die Impfpflicht – ausgegrenzt und es gab massive Diffamierungen von Personen, die sich kritisch geäußert haben. Das hat zur Radikalisierung mancher beigetragen.“

Resilient sein

Krisenzeiten verlangen laut Nida-Rümelin besonders eines: Resilienz. „Wir brauchen handlungsfähige Gesellschaften und Menschen, die nicht vor lauter Angst verrückt werden, sondern entsprechend reagieren.“

Umgang mit extremen Parteien – Cancel Culture: Keine Lösung

Die deutsche AfD, die vom Verfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall untersucht wird und in Teilen als rechtsextrem klassifiziert wurde, spaltet die Gemüter. Sogar ein Verbot der Partei wird immer wieder eingefordert.

Verbote hält Julian Nida-Rümelin nicht für die richtige Lösung: „Cancel Culture ist nicht die angemessene Praxis. Der Versuch, die Leute zu diffamieren und mundtot zu machen ist nicht der richtige Umgang.“ Die Grenzen der Meinungsfreiheit will er sehr weit ziehen: „Wir müssen in einer Demokratie unterschiedliche Meinungen aushalten. Es kann nicht sein, dass man mit allen rechten politischen Kräften keine Diskussion zulässt, denn Ausgrenzung stärkt sie nur. Aber wir müssen scharfe Trennlinien ziehen.“

Trennlinie

Nida-Rümelin verweist bei dieser Trennlinie auf den „Verfassungsbogen“, der im italienischen Widerstand gegen den Faschismus entstand. „Der geht von den Eurokommunisten links bis zu sehr konservativen Bewegungen rechts. Aber er enthält nicht mehr die Neofaschisten, aus denen Giorgia Melonis Partei ‚Fratelli d‘ Italia‘ entstand. All jene, die es zu ihrer Agenda gemacht haben, die Demokratie abzuwracken, ganze Volksgruppen abwerten oder die – im Fall der extremen Linken – ein diktatorisches System á la Mao Tse-Tung einführen wollen, die sind da nicht mehr dabei. Die müssen nicht mehr auf Podien sitzen und mitdiskutieren, mit denen kann man allenfalls therapeutische Gespräche führen.“

Zur AfD erklärt Nida-Rümelin: „Sie ist eine Partei, die in dieser Sache gespalten ist. Es gibt einen Teil, der ist identitär-rechtsradikal und es gibt die Konservativen. Die wehren gegen die identitäre Bewegung in der Partei, die immer stärker geworden ist. In Österreich gibt es analoge Phänomene.“ Die besagte Trennlinie verlaufe innerhalb der Partei. In der Wählerschaft sei aber nur ein kleiner Teil rechtsradikal, die Mehrheit gehöre zu den Protestwählern. „Wenn man die alle als Nazis diffamiert, tut man sich keinen Gefallen.“

Aufarbeitung der Covid-19-Pandemie – Welche Lehren aus Corona gezogen werden sollten

Für Aufsehen sorgte Julian Nida-Rümelin in der Covid-19-Pandemie, als er wiederholt äußerte, der Datenschutz erschwere eine wirksame Bekämpfung von Corona. Dafür erhielt er 2021 den Negativpreis des „BigBrotherAwards“.

Angesprochen darauf erklärt der ehemalige Politiker: „Ich stehe nicht nur zur Äußerung, die Politik hat es sich mit dem Gesetz zur Nutzung von Patientendaten zu eigen gemacht. Das Problem war, wir hatten im März 2020 einen Gesetzentwurf des deutschen Gesundheitsministeriums, in dem stand, man wolle die digitalen Möglichkeiten nutzen, um Kontakte von Infizierten nachzuverfolgen und das Infektionsgeschehen im Blick zu halten. Das wurde aufgrund des Aufschreis der Datenschutzszene gestoppt. Die Folge war, dass die Menschen in den Restaurants Zettel mit ihrem Namen und ihrer Adresse unterschrieben haben, die dann an die Behörden weitergegeben wurden. Wer infiziert war, musste sich vor dem Gesundheitsamt ‚nackt machen‘ und aufzeigen, mit wem man Kontakt hatte und wo man unterwegs war.“

Diese Daten seien alle auf den Handys: „Facebook, Apple und Google greifen alle darauf zurück, aber die Gesundheitsämter durften nicht zugreifen. Ich bin stolzer Träger dieses absurden Negativpreises, weil die Leute dann gesehen haben, wie absurd das ist.“

Folgen

Weitere Schlüsse, die man laut Nida-Rümelin aus der Pandemie ziehen sollte, führt er aus: „Wir haben während der gesamten Corona-Krise keine vernünftigen Schätzungen von Infection Fatality Rate – der Anteil an Todesfällen unter den Infizierten – bekommen.“ Eine solche Schätzung zu veröffentlichen und immer wieder zu revidieren, habe in der Pandemie gefehlt.“

Außerdem spricht er den Zusammenhang zwischen Alter und Todeswahrscheinlichkeit an: „Wer jung ist – unter 40 – hatte ein sehr geringes Risiko, durch Covid zu Tode zu kommen. Oder schwer zu erkranken. Kinder hatten praktisch kein Risiko. Dann wird erzählt, die Kinder seien besonders gefährdet. Deswegen haben wir ewig Kindergärten und Schulen geschlossen. Wir haben unnötigerweise eine Volksgruppe massiv belastet, die zwar nicht gesundheitlich, aber sozial und psychisch hoch vulnerabel war.“ Die Folgen macht der Philosoph in der Gegenwart aus: „Jetzt haben wir einen hohen Anteil – die Rede ist von einem Drittel – depressiver Kinder und Schüler, die den Anschluss beim Lernen verloren haben.“

zur person

Julian Nida-Rümelin (geboren 1954 in München) ist Philosoph und Autor und ehemaliger Politiker. Er lehrt an der Ludwig-Maximilians-Universität in München im berufsbegleitenden Masterstudiengang Philosophie, Politik und Wirtschaft, als Honorarprofessor an der Humboldt Universität Berlin und als Gastprofessor an ausländischen Hochschulen. Zudem ist er Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Direktor am Bayerischen Institut für digitale Transformation. Zwischen 1998 und 2000 war er Kulturreferent der Stadt München und gehörte anschließend als Staatsminister für Kultur und Medien dem ersten Kabinett unter dem deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder (1998).