Wie lernt ein Kind das korrekte Verhalten in Gewaltsituationen?

01.06.2025 • 07:00 Uhr
Wie lernt ein Kind das korrekte Verhalten in Gewaltsituationen?
Die NEUE am Sonntag war zu Gast beim Kurs von Eva Kathrein.

Videos von brutalen Schlägereien, egal ob am Schulhof oder dem Bregenzer Frühlingsfest, sorgen für Gesprächsstoff. Die NEUE am Sonntag war zu Gast beim Selbstverteidigungskurs für Kinder von Gewaltpräventionsexpertin Eva Kathrein in Wolfurt. 

“Zivi … Zivil … Zivilku …chen? Zivilcourage.“ Ein schwieriges Wort, das den rund 15 Mädchen und Jungen, die sich zum Selbstverteidigungskurs bei Eva Kathrein in Wolfurt eingefunden haben, trotzdem irgendwie geläufig erscheint. Mit einfachen Mitteln erklärt die Sozialtrainerin und Gewaltschutzexpertin die Basis-Grundlagen, wie sich Kinder gegen vermeintlich Stärkere behaupten lernen, wie sie mit realen Bedrohungen umzugehen haben und wann es sinnvoll und notwendig ist, sich auch an Fremde zu wenden.

Stark ohne Gewalt

„Lass mich!“, „Geh weg!“, „Hör auf!“ – mit lauter Stimme, festem Blick und sicherem Stand üben über ein Dutzend Kinder in den Bewegunsstudios des Wolfurter Böhlerareals, was in Gefahrensituationen den entscheidenden Unterschied machen kann. Vier Tipps, ergänzt durch klare Körpersprache, gehören zu den Inhalten des Basiskurses, den Eva Kathrein regelmäßig in Wolfurt und in Schulen anbietet. Kathrein, erfahrene Trainerin in Sachen Gewaltprävention, kombiniert spielerische Elemente mit ernsten Gesprächen. Die Kinder lernen, ihre Sinne zu schärfen, Situationen zu reflektieren und in brenzligen Momenten ruhig zu bleiben. „Sehen, hören, aufpassen – das sind die ersten Verteidigungslinien“, erklärt sie den Kindern – und sie hören aufmerksam zu.

Eva Kathrein Joachim Mangard Selbstverteidigung Kinder
Die Kinder lauschen gebannt den Ausführungen der Trainerin.

Der Kurs zielt nicht darauf ab, Kinder zu Kämpfern auszubilden. Vielmehr geht es darum, Gewalt zu erkennen, verbal zu begegnen und – wenn möglich – sich rechtzeitig zu entziehen. „Weglaufen hat nichts mit Feigheit zu tun“, betont Kathrein. Vielmehr sei es oft der klügste und sicherste Weg aus der Gefahr. Die Trainerin legt großen Wert darauf, dass die Kinder selbstwirksam und achtsam werden. Auch alltägliche Mobbing-Situationen auf dem Schulhof werden durchgespielt – und zwar so, dass die Kinder konkrete Handlungsoptionen entwickeln.

Wie lernt ein Kind das korrekte Verhalten in Gewaltsituationen?
Mobbing und Hass sind auch im Netz omnipräsent. Umso wichtiger sei Prävention und Intervention. APA

Ein zentraler Bestandteil des Kurses ist die Mobbingprävention. Anhand realistischer Schulhofszenen wird geübt, wie man sich verbal behauptet, wie man anderen hilft und wie wichtig der Zusammenhalt ist. Bei einem Fangenspiel mit sozialer Botschaft geht es darum, gemeinsam stark zu sein und einander zu befreien, statt tatenlos zuzusehen. „Wenn niemand beisteht, wird die Situation nicht besser“, erklärt Kathrein. Die Kinder lernen, Verantwortung zu übernehmen, ohne sich selbst zu gefährden.

Die Worte klingen an: Viele der Kinder zeigen während der Übungen ein wachsendes Selbstvertrauen. Sie stehen fester, sprechen klarer, und sie trauen sich, die Rolle des Stärkeren einzunehmen – nicht, um zu dominieren, sondern um andere zu schützen.

Gesellschaftliches Anliegen

Im Gespräch mit der NEUE am Sonntag betont Kathrein die Bedeutung ihrer Arbeit über den Kurs hinaus: „Der Kurs zieht sich wie ein roter Faden durch das, was in der Schule an Sozialtraining beginnt – von Mobbingprävention über Intervention bis hin zur Zivilcourage. Und genau die brauchen wir in unserer Gesellschaft ganz dringend.“

Sie sieht ein gesellschaftliches Defizit in der mangelnden Finanzierung solcher Projekte. Interventionen bei Mobbing, sagt sie, seien extrem arbeitsintensiv und würden oft vernachlässigt. „Es wird am falschen Ort gespart. Wenn wir die Kinder von unten her stärken, bringt das der ganzen Gesellschaft etwas.“ Sie spricht damit auch einen bildungspolitischen Missstand an: Prävention sei zwar beliebt, Intervention jedoch bleibe meist vernachlässigt – aus Kostengründen.

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Digitale Herausforderungen

Auch die Herausforderungen durch die digitale Welt nimmt Kathrein in den Fokus. Gewaltvideos auf TikTok, Cybermobbing über WhatsApp-Gruppen – Kinder sind längst konfrontiert mit einer neuen Form von Bedrohung. „Ein Handyverbot allein reicht nicht. Es braucht mehr Aufklärung, mehr Kompetenz, mehr Begleitung“, sagt sie. Soziale Medien hätten einen enormen Einfluss auf die Entwicklung sozialer Verhaltensmuster, und es sei die Aufgabe von Schule, Eltern und Gesellschaft, dem etwas entgegenzusetzen.

Ein eindrückliches Beispiel sei das kürzlich von Schülern selbst produziertes Gewaltvideo, das für Schlagzeilen sorgte. „Da sieht man, wie wichtig es ist, mit Kindern über Gewalt, über Grenzen und über Verantwortung zu sprechen – nicht nur einmal, sondern regelmäßig“, betont Kathrein. Sensibilisierung sei hier das Schlüsselwort.

Eva Kathrein Joachim Mangard Selbstverteidigung Kinder
Eva Kathrein vermittelt Haltung und das richtige Verhalten in Stresssituationen.

Alle Kinder erreichen

Eines ihrer größten Anliegen ist es, auch jene Kinder zu erreichen, die durch soziale oder finanzielle Hürden von solchen Angeboten ausgeschlossen bleiben. „Der heutige Kurs war im Verein, da kommen nur Kinder, deren Eltern sich das leisten können. In der Schule hingegen erreiche ich viele – aber auch das kostet. Das sollte ein Ruf an die Politik sein.“ Kathrein fordert ein strukturell finanziertes Angebot an Schulen: „Gewaltprävention und Intervention dürfen keine Zusatzangebote bleiben – das muss elementarer Teil des Bildungsauftrags sein.“

Investition in die Zukunft

Gefordert sei ein gesellschaftliches und politisches Umdenken. Mit der Überzeugung, dass Kinder sehr wohl lernen können, mit Konflikten umzugehen – wenn man ihnen zuhört, ihnen zutraut, Verantwortung zu übernehmen, und sie dabei unterstützt. „Wir lernen ja voneinander, indem wir uns reiben“, sagt Kathrein. „Aber wir müssen auch lernen, wo die Grenze ist – und dass Hilfe holen kein Zeichen von Schwäche ist, sondern von Mut.“

Verhaltenstipps für Kinder, wenn sie mit Gewalt konfrontiert werden

  • Zwei Worte: Deutlich und verständlich, aber nicht aggressiv zurechtweisen.Verwende kurze und prägnante Wendungen wie „Lass mich!“, „Hör auf!“ oder „Geh weg!“. Mach auf die Situation aufmerksam, auch so, dass dein Umfeld sich der Gefahrensituation bewusst wird.
  • Achte auf den richtigen Abstand, eine Armlänge gilt als Richtmaß.
  • Körpersprache und Arme und Hände unten am Körper lassen. Mach dich groß, stehe ruhig und ausbalanciert auf beiden Beinen. 
  • „Adlerblick“ – klare und bestimmte Kommunikation über die Augen. Sieh deinem Gegenüber bewusst mit strengem Blick in die Augen.

Wichtig: Mach auf dich aufmerksam und suche auch die Hilfe von anderen, die vielleicht nur zuschauen.

Eva Kathrein Joachim Mangard Selbstverteidigung Kinder
Eva Kathrein im Kreis ihrer Schützlinge.

Zur Person: Eva Kathrein
Die gebürtige Lustenauerin (47) ist diplomierte Sportphysiotherapeutin, Mutter zweier Kinder und seit über 20 Jahren im Karate aktiv (2. Dan). Sie ist Expertin für Gewaltprävention, Multiplikatorin gegen sexualisierte Gewalt im Sport und engagiert sich in mehreren Vorständen. Sie leitet Projekte zu Kinderschutz, Fairplay und Integration.

Infos: www.karate-wolfurt.at

(NEUE am Sonntag)