Politik

“Völlig vergessen wird dieses Land wohl nie”

27.06.2021 • 14:12 Uhr
Karl Kaser in seinem Büro an der Abteilung für Südosteuropäische Geschichte der Universität Graz
Karl Kaser in seinem Büro an der Abteilung für Südosteuropäische Geschichte der Universität Graz (c) Stefan Winkler

In­ter­view. Ju­go­sla­wi­en zog Karl Kaser früh in den Bann.

Vor 30 Jah­ren be­gann der Zer­fall Ju­go­sla­wi­ens, das Sie kann­ten wie nur we­ni­ge. Was war es für ein Land?

KARL KASER: Ich möch­te diese Frage an­hand per­sön­li­cher Er­in­ne­run­gen be­ant­wor­ten, nicht als His­to­ri­ker. Es sind die Er­in­ne­run­gen eines da­mals jun­gen Ös­ter­rei­chers, der Ju­go­sla­wi­en nur von außen kann­te. Frag­men­te eines chao­ti­schen, aber le­bens­wer­ten Lan­des, das Dinge her­vor­brach­te, die ich in Ös­ter­reich miss­te – die Spra­chen- und Kul­tu­ren­viel­falt, aber auch seine Spiel­art des Kom­mu­nis­mus, die mit Tito ver­knüpft wurde. Zum Le­bens­wer­ten ge­hör­ten der ob­li­ga­te Es­pres­so mit Sli­wo­witz oder Ko­gnak und einer fil­ter­lo­sen „Drina“, die für einen Ös­ter­rei­cher fan­tas­tisch an­mu­ten­den Filme des jun­gen Kus­tu­rica und die un­zäh­li­gen Pop- und Rock­kon­zer­te, die schein­bar ein ei­ni­gen­des kul­tu­rel­les Band unter Ju­gend­li­chen kre­ierten. Diese Er­in­ne­run­gen um­fas­sen auch so tri­via­le Dinge wie wegen Ben­zin­knapp­heit ge­schlos­se­ne Tank­stel­len, aber auch ernst­haf­te­re Phä­no­me­ne wie den auf­kei­men­de Na­tio­na­lis­mus in der zwei­ten Hälf­te der Acht­zi­ger­jah­re, der, im Un­ter­schied zu frü­he­ren Jahr­zehn­ten, etwa mit Miloševic nun re­al­po­li­tisch wirk­sam wurde. Ju­go­sla­wi­en wurde von mei­ner Ge­ne­ra­ti­on auch als ein Land zwi­schen Ost- und West emp­fun­den. In Šent­ilj mit dem Auto die Gren­ze über­que­rend und den be­rühmt-ge­fähr­li­chen Au­to­put nut­zend, lan­de­ten wir in an­de­ren Wel­ten – in Is­tan­bul oder Athen.

Und doch war es eine Dik­ta­tur, in der man als Dis­si­dent im Ge­fäng­nis oder im Lager lan­den konn­te. Trübt das nicht jede Nost­al­gie?

Diese Frage ist mehr als be­rech­tigt. Aber viele eu­ro­päi­sche Staa­ten wur­den da­mals dik­ta­to­risch re­giert, die so­zia­lis­ti­schen in Ost­eu­ro­pa, aber auch west­li­che wie Grie­chen­land, Por­tu­gal und Spa­ni­en. Und dann gab es Ju­go­sla­wi­en mit die­sem be­gab­ten po­li­ti­schen Füh­rer Tito. Er hatte es ge­schafft, mutig einen ei­ge­nen so­zia­lis­ti­schen Weg zu gehen. 1948 hatte Tito mit Sta­lin ge­bro­chen. Die meis­ten Dis­si­den­ten, die in Ge­fäng­nis­sen und auf der Stra­finsel Goli Otok lan­de­ten, waren ja des Sta­li­nis­mus be­zich­tigt wor­den. Die Schär­fe der po­li­ti­schen Ver­fol­gung hat sich dann im Lauf der Zeit ge­mil­dert. In den Acht­zi­ger­jah­ren war es prak­tisch un­mög­lich, wegen ab­wei­chen­der po­li­ti­scher An­sich­ten in­haf­tiert zu wer­den.

War Josip Broz Tito ein Dik­ta­tor im Schafs­pelz?

Tito besaß er­heb­li­ches Cha­ris­ma. Sein in­nen­po­li­ti­sches Han­deln wurde als ge­recht und aus­glei­chend emp­fun­den, er stand über allen na­tio­na­lis­ti­schen Kon­flik­ten. Welt­po­li­tisch hatte er Ju­go­sla­wi­en in eine Füh­rungs­po­si­ti­on ge­rückt. Nicht nur, dass das Land mit ame­ri­ka­ni­scher Un­ter­stüt­zung einen re­la­tiv hohen Le­bens­stan­dard er­reich­te. Er schlug auch au­ßen­po­li­tisch einen ei­gen­stän­di­gen Kurs ein, indem er mit In­di­en und Ägyp­ten die Be­we­gung der Block­frei­en ins Leben rief, der sich viele asia­ti­sche und afri­ka­ni­sche Län­der an­schlos­sen. Tito war ein Dik­ta­tor, aber auch eine der schil­lernds­ten po­li­ti­schen Per­sön­lich­kei­ten sei­ner Zeit.

Kam der blu­ti­ge Zer­fall von Ju­go­sla­wi­en für Sie plötz­lich?

Bei­des kam für uns über­ra­schend: der Zer­fall und das Blu­ti­ge. Ohne Ju­go­sla­wi­en konn­ten wir uns die Land­kar­te nicht vor­stel­len. Der „Zer­fall“ ent­steht erst aus der his­to­ri­schen Be­trach­tung, für uns Zeit­ge­nos­sen war es lange eine ju­go­sla­wi­sche Krise. Erst mit der in­ter­na­tio­na­len An­er­ken­nung der Un­ab­hän­gig­keit Slo­we­ni­ens, Kroa­ti­ens und Bos­ni­en-Her­ze­go­wi­nas war un­miss­ver­ständ­lich klar, dass Ju­go­sla­wi­en sich in einem Zer­falls­pro­zess be­fand. Des­sen blu­ti­ge Seite soll­te sich aber erst 1992 de­fi­ni­tiv ma­ni­fes­tie­ren.

Warum zer­fiel das Land?

Die Na­tio­na­lis­ten im kom­mu­nis­ti­schen Schafs­pelz haben ganze Ar­beit ge­leis­tet. Trotz aller Be­mü­hun­gen und Siege der ju­go­sla­wi­schen Fuß­ball-, Bas­ket­ball- und Was­ser­ball­mann­schaf­ten ging der Wille, für ein ge­mein­sa­mes und mul­ti­eth­ni­sches Ju­go­sla­wi­en ein­zu­ste­hen, ver­lo­ren. Das zwei­te Ju­go­sla­wi­en zer­fiel mehr oder we­ni­ger ent­lang jener Gren­zen, aus denen das erste Ju­go­sla­wi­en 1918 zu­sam­men­ge­stellt wor­den war. Dies ist eine Iro­nie der Ge­schich­te. Der Zer­fall nahm blu­ti­ge Aus­ma­ße an, weil das na­tio­na­lis­ti­sche Prin­zip keine Pa­tent­lö­sung war. Kroa­ti­en hatte seine ser­bi­sche Min­der­heit, der mehr­heit­lich al­ba­ni­sche Ko­so­vo war ser­bisch be­herrscht, Bos­ni­en-Her­ze­go­wi­na zer­fiel in seine bos­nia­ki­schen, ser­bi­schen und kroa­ti­schen Kom­po­nen­ten. Genau an die­sen Brenn­punk­ten bra­chen die Zer­fall­skrie­ge aus.

Wie er­klä­ren Sie die un­fass­ba­ren Gräu­el, zu denen es dann kam?

Dies ist eine sehr ge­fähr­li­che Frage, da sie dazu ein­lädt, allzu ein­fa­che Ant­wor­ten zu fin­den, die all das Schlim­me in den Krie­gen einer be­stimm­ten eth­ni­schen Grup­pe zu­schie­ben und alle an­de­ren exkul­pie­ren, oder im Bal­ka­ni­schen ein Kul­tur­mus­ter ver­mu­ten, das Lust am Töten und Bru­ta­li­tät in den Vor­der­grund rückt. Aber dies ist eine Zu­mu­tung, da die un­fass­ba­ren Gräu­el, von denen Sie spre­chen, in davor un­be­kann­ten Aus­maß von Na­zi-Deutsch­land be­gan­gen wor­den waren. Wir soll­ten es nicht wagen, die ein­zel­nen Gräu­el in den ju­go­sla­wi­schen Krie­gen über das ras­sis­tisch mo­ti­vier­te Mor­den der in­dus­tri­el­len Tö­tungs­ma­schi­ne­rie der Nazis zu stel­len. Das hieße, den Ho­lo­caust zu re­la­ti­vie­ren.

Haben Sie sich nie nach den Grün­den für die Ex­zes­se ge­fragt?

Na­tür­lich habe ich das. Ich hatte da­mals ge­ra­de be­gon­nen, mich mit der Kul­tur des Hel­den­tums, dem Männ­lich­keits­kult und dem Pa­tri­ar­cha­lis­mus am Bal­kan zu be­fas­sen. Die­ses kul­tu­rel­le Stra­tum schien vom Ti­to-Kom­mu­nis­mus über­tüncht wor­den zu sein und nun in den ju­go­sla­wi­schen Krie­gen wie­der durch­zu­bre­chen. Aber ich habe da­mals in­ten­siv mit einem US-An­thro­po­lo­gen zu­sam­men­ge­ar­bei­tet, der lange in Ju­go­sla­wi­en ge­forscht hat. Seine Be­ob­ach­tun­gen waren es, die mich sehr vor­sich­tig wer­den lie­ßen – im kras­sen Un­ter­schied zu vie­len Ihrer da­ma­li­gen Kol­le­gen in der Me­di­en­welt, die wü­ten­de mit­tel­al­ter­li­che Bal­kankan­ni­ba­len in mo­der­nen Mi­li­tär­uni­for­men zu ent­de­cken glaub­ten.

Was genau mach­te Sie stut­zig?

Titos Equi­pe über­nahm 1945 ein Land, das in sei­nen Me­tro­po­len Bel­grad und Za­greb eu­ro­pä­isch mo­dern, aber in wei­ten länd­li­chen Ge­bie­ten sehr rück­stän­dig war, und un­ter­warf es einem ri­go­ro­sem Mo­der­ni­sie­rungs­pro­gramm: all­ge­mei­ne Schul­pflicht, Al­pha­be­ti­sie­rung, Kino, Thea­ter, Sport, Gym­na­si­en, Stra­ßen, Bahn­ver­bin­dun­gen, In­fra­struk­tur und Zu­rück­drän­gung der Re­li­gi­on. Dies alles soll­te Män­ner völ­lig un­be­rührt ge­las­sen haben, die zu den Waf­fen grif­fen, als der Krieg aus­brach? Statt tra­di­tio­nel­le Werte in un­pas­sen­der Weise hoch­zu­ru­fen, soll­ten wir unser Au­gen­merk dar­auf rich­ten, was die Mo­der­ne an zi­vi­li­sa­ti­ons­bre­chen­den Po­ten­zia­len in sich birgt. In wel­cher Form spie­gelt sie sich in der mas­sen­haf­ten Ver­ge­wal­ti­gung von Frau­en im Krieg und in mör­de­ri­schen Frei­schär­lern, die am Frei­tag­nach­mit­tag nach der Ar­beit zu­sam­men­fan­den, um bis Sonn­tag­nach­mit­tag ihrem „Wo­chen­end­ge­schäft“ nach­zu­ge­hen?

Spiel­ten die Ver­bre­chen von Us­ta­scha, Tschet­niks und kom­mu­nis­ti­schen Par­ti­sa­nen im Zwei­ten Welt­krieg, die Ab­rech­nung da­nach und ihre Ta­bui­sie­rung in Ti­to-Ju­go­sla­wi­en gar keine Rolle?

Das sind wie­der diese allzu leicht­fer­tig zu­sam­men­ge­bas­tel­ten west­li­chen Er­klä­rungs­mus­ter! Ich habe die Haa­ger Ver­neh­mungs­pro­to­kol­le nicht stu­diert, aber ich bin über­zeugt davon, dass der ser­bi­sche Ge­ne­ral Mla­dic kein ein­zi­ges Mal mit den er­wähn­ten Ex­zes­sen im Zwei­ten Welt­krieg ar­gu­men­tiert hat, um sich zu ver­tei­di­gen. Die Er­klä­run­gen fin­den wir vor Ort, nicht in der fer­nen Ge­schich­te!

Wie le­ben­dig ist die Er­in­ne­rung an Ju­go­sla­wi­en am Bal­kan heute?

Sie ist in den ein­zel­nen Nach­fol­ge­staa­ten un­ter­schied­lich stark aus­ge­prägt. In Slo­we­ni­en ist es wohl so, dass dem zen­tral­eu­ro­päi­schen Land die Bal­kan­kom­po­nen­te ab­han­den­ge­kom­men ist. An­ders ge­la­gert ist der Fall in Bos­ni­en-Her­ze­go­wi­na. Hier, in Jajce, wurde das neue Ju­go­sla­wi­en Ende No­vem­ber 1943 aus der Taufe ge­ho­ben. Hier ist die Er­in­ne­rungs­be­we­gung am stärks­ten ver­an­kert und küm­mert sich darum, dass Ge­denk­stät­ten, die an ent­schei­den­de Schlach­ten im Zwei­ten Welt­krieg er­in­nern, wei­ter­hin ge­pflegt wer­den. Ins­ge­samt sind die Gren­zen zwi­schen Ver­ges­sen und Er­in­ne­rung porös, al­ler­dings völ­lig ver­ges­sen wird die­ses Land wohl nie wer­den.

Karl Kaser wurde 1954 geboren. Er studierte Geschichte und Slawistik an der Karl-Franzens-Universität Graz und wurde dort 1996 zum ordentlichen Universitätsprofessor für Südosteuropäische Geschichte berufen. Kaser ist zudem Honorarprofessor an der Uni Shkodra.