Politik

Wieso Ägypten Angst vor einer Massenflucht aus Gaza hat

15.10.2023 • 14:47 Uhr
Ägypten – einziges Nachbarland Gazas – verweigert flüchtenden Palästinensern bisher die Einreise
Ägypten – einziges Nachbarland Gazas – verweigert flüchtenden Palästinensern bisher die Einreise (c) IMAGO/APAimages (IMAGO/Ahmed Tawfeq apaimages)

Kairo weigert sich, die Grenze zum Gazastreifen für palästinensische Flüchtlinge zu öffnen. Was hinter der fehlenden Hilfe steckt.

Auf den ersten Blick sahen sie aus wie ein Schwarm kleiner weißer Vögel. Doch beim näheren Hinsehen wurde klar, dass es sich um Tausende von Flugblättern handelte. Abertausende. Abgeworfen am Freitag von der israelischen Armee (IDF) über dem Gazastreifen, um der zivilen palästinensischen Bevölkerung mitzuteilen: „Flüchtet sofort!“ Der Aufruf kam nach den blutigen Massakern mit mehr als 1300 Toten, die die Terrororganisation Hamas vor einer Woche in israelischen Gemeinden anrichtete.

Viele Familien flüchten trotz Verbot der Hamas

Die IDF forderte damit mehr als eine Million Menschen auf, ihre Häuser innerhalb von 24 Stunden im nördlichen Teil der Enklave zu verlassen und Richtung Süden zu fliehen. Während massive Vergeltungsangriffe aus der Luft bereits seit Tagen geflogen werden, steht eine israelische Bodenoffensive kurz bevor, um „die Hamas-Terrorgruppe zu vernichten“, wie das israelische Militär ankündigte. Die Hamas, die den Gazastreifen regiert, rief die Einwohner auf, die Flugblätter zu ignorieren und in ihren Häusern zu bleiben. Doch viele Familien machen sich mit dem, was sie tragen können, auf den bitteren Weg.

Die Vereinten Nationen bezeichneten eine Evakuierung in dieser kurzen Zeit als „unmöglich“. Sie würde eine Tragödie in eine Katastrophe verwandeln. Laut Berichten der Organisation Ärzte für Menschenrechte in Israel hätten das El-Uda-Krankenhaus und das Kamal Adwan-Kinderkrankenhaus im Norden des Gazastreifens mitgeteilt, dass sie nicht evakuieren, da es im Süden keine medizinische Einrichtung gibt, die die Patienten aufnehmen kann.

Angst vor Verpflichtungen

Ägypten steht unter wachsendem Handlungsdruck. Das Land ist der einzige Nachbar, der an Gaza angrenzt. Nach den brutalen Angriffen der Hamas hatte Israel seine beiden Grenzübergänge zur Enklave abgeriegelt und endete jegliche Versorgung mit Strom, Wasser und Treibstoff. Die Grenze Rafah zwischen Gaza und Ägypten ist somit der einzige Weg, um Menschen aus dem Streifen herauszuholen und Vorräte hinzubringen.

Amerikanische Beamte drängen darauf, dass die Ägypter dort einen sicheren Korridor für Zivilisten einrichten. Am Samstag kam die Bestätigung, dass Ausländern mit Wohnsitz in Gaza die Ausreise über Rafah ermöglicht wird.

Doch vor weiteren Verpflichtungen hat Ägypten Angst. Vor allem ist man in Kairo besorgt, dass Hunderttausende palästinensische Flüchtlinge in das Land am Nil strömen. In dem lediglich 365 Quadratkilometer großen Gazastreifen leben rund 2.3 Millionen Menschen, viele von ihnen in bitterer Armut. Am Donnerstag beteuerte der ägyptische Präsident Abdel Fattah el-Sisi, dass Gerüchte, Ägypten wolle seinen palästinensischen Nachbarn nicht helfen, unwahr seien. „Wir stellen sicher, dass medizinische und humanitäre Hilfe in dieser schwierigen Zeit den Streifen erreicht.“

Ägypten will kein Gaza-Problem

El-Sisi schränkte jedoch ein, dass die Fähigkeit seines Landes, zu helfen, Grenzen habe. „Natürlich haben wir Mitgefühl. Aber wir müssen trotzdem immer unseren Verstand einsetzen, um Frieden und Sicherheit auf eine Weise zu erreichen, die uns nicht viel zu viel kostet“, sagte er und hob hervor, dass Ägypten bereits neun Millionen Migranten beherbergt. Zudem gebe es die Sorge, dass durch eine generelle Grenzöffnung „die palästinensische Sache eines eigenen Staates“ gefährdet sei. „Deshalb ist es wichtig, dass das palästinensische Volk standhaft und präsent auf seinem Land bleibt“, sagte el-Sisi.

Das ägyptische Außenministerium bezeichnete Israels Evakuierungsaufruf als „schweren Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht“. Angeblich würden jordanische und ägyptische Beamte derzeit diplomatischen Druck auf die Jerusalem ausüben.

Obwohl Kairo regelmäßig bei Konflikten zwischen Israel und Gaza vermittelte, lehnte die dortige Regierung es stets ab, die Grenze für palästinensische Flüchtlinge zu öffnen. Allem Anschein nach wird es auch diesmal nicht geschehen, denn man befürchtet zudem, dass Jerusalem die Krise nutzen könnte, um den Gaza-Konflikt auch zum Problem des Nachbarn zu machen. El-Sisi will das unter keinen Umständen: „Ägypten wird nicht zulassen, dass die palästinensische Sache auf Kosten anderer Parteien geregelt wird“.