„Wir in Europa hinken noch hinterher“

Interview. Das Olympiazentrum Vorarlberg veranstaltet am Freitag, dem 17. Oktober, im Sportgymnasium Dornbirn das Sportsymposium „BrainCrash – Gehirnerschütterungen verstehen, erkennen, handeln“. Im letzten Teil des Doppel-Interviews sprechen die Experten des Olympiazentrums Marc Philippe (Kompetenzzentrum Wissenschaft) und Marc Sohm (Ärztliche Leitung Sportmedizinisches Institut) über internationale Vergleiche, das Lernen auf die harte Tour und wichtige Leitlinien.
Ich habe eine Studie gefunden, wonach 17 Prozent der Eishockeyspieler, 9 Prozent der Basketballspieler und je sechs Prozent der Handballer und Fußballer im Verlauf Ihrer Karriere eine nachgewiesene Gehirnerschütterung erleiden. Das zeigt schon, und das ist ja jetzt nur eine Studie, die sich auf vier Sportarten bezieht, dass die Gefahr für einen Spitzensportler evident ist, eine Gehirnerschütterung zu erleiden.
Marc Philippe: Es sind sehr viele Spitzensportler, die eine Gehirnerschütterung erleiden. Wir müssen uns allerdings leider immer auf Zahlen verlassen, die eher aus den USA kommen, aus Kanada, Neuseeland oder Australien, weil es gerade in Europa sehr wenig epidemiologische Forschung in dem Bereich gibt. Wir können nicht mit Zahlen belegen, wie viele Gehirnerschütterungen in Europa im Spitzensport passieren, und schon gar nicht, wie viele es in Österreich sind. Wir wissen aber trotzdem, dass bei den Kindern und Jugendlichen bis unter 15 Jahren die Gehirnerschütterung der häufigste Grund für eine stationäre Einlieferung ins Krankenhaus ist. Also es ist eine extrem häufige Verletzung, und wir wissen auch, aus den USA und Kanada, dass von sämtlichen Sportverletzungen, Gehirnerschütterungen zwischen 10 und 20 Prozent aller Sportverletzungen ausmachen. Und dann sprechen wir noch nicht mal über die vielen unerkannten Gehirnerschütterungen, weil man eben bei uns nicht so genau hinschaut – oder positiv ausgedrückt erst langsam damit beginnt.
Woran liegt das denn, dass in Europa das Verständnis und die Sensibilisierung für Gehirnerschütterungen offenbar noch wenig ausgeprägt ist? Ich finde das unfassbar.
Marc Sohm: Das hat damit zu tun, dass die großen Ligen, wo viele Gehirnerschütterungen stattfinden, im nordamerikanischen und im australischen Raum beheimatet sind, wie zum Beispiel American Football oder Rugby. England hat zwar auch eine große Rugby-Tradition, und es gibt auch Daten, aber die sind sehr sportartspezifisch. Dann stoßen wir noch auf das Problem, dass eigentlich weltweit die erfassten Daten immer noch sehr männerlastig sind, denn dort, wo hauptsächlich die Daten erfasst werden, in der NHL, NFL, NBA, treffen wir auf eine große Männerdomäne.
Philippe: Auch in der NFL hat es eine Zeit lang gedauert, bis man reagiert hat. Aber mit zunehmenden Verletzungszahlen, Folgebeschwerden nach Karriereenden und wissenschaftlichen Arbeiten war das Problem nicht mehr kleinzureden. In Kanada hat man aus einem sehr traurigen Beispiel seine Lehren gezogen. Dort starb die junge Rugbyspielerin Rowan Stringer aufgrund von mehrfachen Gehirnerschütterungen. Daraufhin hat man ein Gesetz erlassen, das sogar ihren Namen trägt und Rowan’s Law heißt, das den Umgang mit Gehirnerschütterungen im Sport eindeutig regelt. Es braucht im Umgang mit Gehirnerschütterungen mehr Bildung auf allen Ebenen, bei Sportlern, Trainer, Funktionären – aber auch bei den Eltern. Bleiben wir beim Beispiel Kanada. Dort kriegen Kinder keine Sportlizenz in Kontaktsportarten, wenn die Eltern nicht regelmäßig ihre Fortbildungen machen. Sie haben die Thematik Gehirnerschütterungen sogar in den Schulplan integriert, in zwei Schulstufen muss Unterrichtsstoff zu Gehirnerschütterungen inkludiert sein. Das heißt, in Kanada mussten sie die Lektionen auf die harte Tour lernen, aber immerhin haben sie gelernt, die Herangehensweise ist inzwischen eine völlig andere. Auch die Reportingauflagen sind viel strenger geworden. Wir in Europa dagegen hinken noch etwas hinterher. Obwohl wir auch mit unserer Fußballtradition eine Sportart haben, bei der es potenziell Probleme gibt. Man weiß aus dem Profibereich, dass da neurodegenerativ vermehrte Komplikationen auftreten können nach den Karrieren.
Oft steuern banale Dinge mehr bei als die besten Studien, weil sie mehr Leute auf einer verständlichen Ebene erreichen. Es gibt einen gut gemachten Hollywood-Film mit dem Titel „Erschütternde Wahrheit“, der das Thema Langzeitfolgen von Gehirnerschütterungen thematisiert. Ist der Film ein Beispiel, bei dem Sie sagen würden: Das ist jetzt zwar nicht alles fachgerecht, aber der Film hilft durchaus bei der Sensibilisierung?
Sohm: Es ist natürlich ein Hollywood-Film, und Hollywood-Filme versuchen immer sehr stark mit Emotionen zu spielen. Aber die Emotionen sind authentisch. Der Film basiert ja auf einem echten Fall.
Um die Leser mitzunehmen: Ein Wissenschaftler erkennt nach postmortalen Untersuchungen der Gehirne von zwei ehemaligen American-Football-Spielern der NFL, die während ihrer Karrieren mehrere Male Gehirnerschütterungen erlitten und später durch Suizid starben, dass die wiederholten traumatischen Schädigungen des Gehirns furchtbare Folgen gehabt haben, die eine Persönlichkeitsänderung bewirkten.
Sohm: Richtig. Der Neuropathologe stößt auf auffällige, suizidale ehemalige Footballspieler, die sozial komplett verwahrlost und gewalttätig waren, darunter auch einer der erfolgreichsten Football-Spieler aller Zeiten. Solche Entwicklungen sind sehr tragisch. Es geht dabei um die CTE, die chronisch traumatische Enzephalopathie, eine neurodegenerative Erkrankung, die infolge wiederholter Schläge oder Stöße gegen den Kopf auftritt. Zu den Symptomen gehören kognitive Defizite, Wesens- und Verhaltensveränderungen sowie Bewegungsstörungen. Die CTE kann man auch nachweisen. Das Problem ist, dass es im Moment aber nur post mortem diagnostizierbar ist, mit einem Hirnschnitt. Um noch mal auf den Film zu kommen: Der Film ist natürlich schon sehr reißerisch, aber dadurch, dass er mit Will Smith einen sehr bekannten Hauptdarsteller hat und der Film auf einer wahren Begebenheit beruht, ist er bei der Sensibilisierung schon hilfreich.
Bleibt zum Abschluss noch ein Blick auf das Sportsymposium „BrainCrash“, das vom Olympiazentrum Vorarlberg am 17. Oktober ab 13 Uhr im Sportgymnasium Dornbirn veranstaltet wird. Was dürfen die Besucher erwarten?
Philippe: Beim Symposium decken wir genau das ab, was eben so ein Film nicht abdecken kann. Der Film rüttelt auf, das ist gut. Aber unser Ziel ist ja nicht, dass Leute weniger oder Kinder weniger Sport machen. Ganz im Gegenteil, wir möchten, dass sie mehr Sport machen, aber wir möchten, dass das sicher stattfindet. Beim Sportsymposium BrainCrash geht es uns wie schon im Titel steht darum: verstehen, erkennen und dann auch richtig handeln. Wie entsteht überhaupt eine Gehirnerschütterung? Dann ganz wichtig, wie kann ich es erkennen? Da arbeiten wir mit evidenzbasierten Leitlinien, mit Tools, die sowohl für Laien verständlich sind, das Sportsymposium richtet sich ja an alle Interessierte, aber vor allem auch an diejenigen, die mit Kindern, Jugendlichen in einem Bewegungskontext Sport arbeiten. Das schließt die Schule, also auch Elementarpädagogik, Kinderbetreuung und so weiter mit ein. Für alle die macht es Sinn. Und es geht darum, wie kann ich die Situation beurteilen, wenn ich beobachte, dass jemand auf den Kopf geflogen ist und ich vermute, dass irgendwas passiert sein könnte? Wie kann ich einschätzen, ob es notwendig ist, die betroffene Person im Anschluss ins Krankenhaus zu begleiten oder begleiten zu lassen? Und es geht darum, die Menschen zu sensibilisieren, dass sie 48 Stunden wachsam bleiben müssen, auch wenn akut keine Symptome zu beobachten sind. Nach einer Gehirnerschütterung ist ein klar strukturierter Wiedereinstieg in Schule und Sport entscheidend, darauf legen wir bei BrainCrash einen besonderen Wert.
Sohm: Vielleicht abschließend noch: Wir haben in diesem sehr ausführlichen Interview verständlicherweise viel über den Spitzensport gesprochen. Aber ein wichtiges Anliegen für uns beim Sportsymposium ist, dass jene Personengruppen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, darüber aufgeklärt sind: Gehirnerschütterung zu verstehen, zu erkennen und richtig zu handeln. Es braucht eine frühe Sensibilisierung, deshalb ist das Lehr-, Unterrichtspersonal und Trainerpersonal eine wichtige Zielgruppe beim Sportsymposium.