Vorarlberg

„Jeder fehlende Euro wird mehrfach teurer“

21.08.2025 • 20:01 Uhr
„Jeder fehlende Euro wird mehrfach teurer“
Ulrike Schmid-Santer fordert antizyklische Budgets, längere Förderperioden und mehr soziale Vergabe. Stiplovsek (6)

Interview. Ulrike Schmid-Santer von arbeit plus über Kürzungen im Sozialbereich, warum Langzeitarbeitslosigkeit ganze Systeme belastet und welche drei Schritte jetzt wirklich helfen würden.

Was ist arbeit plus und was macht das Netzwerk?
Ulrike Schmid-Santer:
Arbeit plus ist ein Dachverband und ein Ländernetzwerk. In Vorarlberg heißen wir „arbeit plus – Soziale Unternehmen Vorarlberg“. Dazu zählen fünf Mitgliedsbetriebe: Aqua Mühle Vorarlberg, Integra Vorarlberg, die Dornbirner Jugendwerkstätten, carla Vorarlberg (das soziale Unternehmen der Caritas) und die Kaplan Bonetti Arbeitsprojekte. Unser Ziel ist, gemeinsame Themen zu bündeln, eine Linie zu entwerfen und Lobbyarbeit zu machen, um den Arbeitsmarkt in Vorarlberg weiterzuentwickeln.

Im Landesbudget 2025 sind im Bereich „Sozialer Zusammenhalt“ über 300 Millionen Euro vorgesehen. Gleichzeitig wird viel über Kürzungen diskutiert. Spüren Sie das?
Schmid-Santer:
Wir spüren seit Jahren den Druck. Fördermittel steigen nicht und in der Realität bedeutet das Kürzungen, weil die Indexierung nicht abgedeckt ist. Das AMS Vorarlberg bemüht sich sehr, das Budget zumindest zu halten. Trotzdem können wir jährlich weniger Arbeitsplätze anbieten als im Vorjahr. Das betrifft die sozialökonomischen Betriebe massiv.

„Jeder fehlende Euro wird mehrfach teurer“

Wo entstehen dadurch Lücken für die Betroffenen?
Schmid-Santer:
Vor allem in der Beziehungsarbeit. Es geht darum, individuellen Betreuungs- und Begleitbedarf sichtbar zu machen. Wenn man dort spart, fehlen individuelle Lösungen. Dazu kommt, dass unsere Arbeitsprojekte der Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten zugeordnet sind und nur minimal über den Sozialfonds mitfinanziert werden. Das heißt, Ansprechpartner ist Landesrat Marco Tittler. Insgesamt muss man aber Soziales und Wirtschaft zusammendenken, weil das eine das andere beeinflusst.

Was bedeutet das konkret für Arbeitssuchende?
Schmid-Santer:
Wenn weniger Personen in unsere Projekte kommen, machen sich die Auswirkungen von Langzeitbeschäftigungslosigkeit bemerkbar: gesundheitliche Folgen, psychische Probleme, Strukturverlust. Für jeden Euro, der fehlt, entstehen an anderer Stelle die zehnfachen Kosten – bei der ÖGK, bei der PVA, in der Schuldenberatung oder in Armuts- und Wohnsituationen. Es hängt alles zusammen. Eben darum ist es ja ein Netz.

Welche Schwerpunkte setzen Sie in der Integration?
Schmid-Santer:
Unser sensationelles Produkt sind Arbeitsplätze. Wir beschäftigen Menschen in befristeten Dienstverhältnissen, sie sind nicht mehr arbeitslos. Dazu kommt das Projekt Basic, eine Beratungs- und Betreuungsmaßnahme. Dort geht es auch um Themen wie Einsamkeit. Wichtig ist außerdem, dass wir an den Rahmenbedingungen arbeiten, damit die Mitgliedsbetriebe ihre Arbeit bestmöglich machen können.

„Jeder fehlende Euro wird mehrfach teurer“

Die Bundesregierung startet 2026 mit der Aktion 55Plus. Bringt das Chancen?
Schmid-Santer:
Ich sehe mehr Chancen als Risiken. Ältere bringen Erfahrung, Wissen, Kontinuität und Stabilität mit und sind loyal zu Arbeitgebern, die ihnen eine Chance geben. Aber Arbeitsmarktpolitik braucht ein Netzwerk: AMS, Unternehmen und soziale Betriebe müssen zusammenarbeiten. Kritisch sehe ich, dass aus Sicht mancher Unternehmen Jüngere vermeintlich bessere Chancen haben. Ich würde das widerlegen, denn die Stärken der Älteren sind offensichtlich.

Oft heißt es, die jungen Generationen hätten weniger Arbeitsmoral. Ist das ein Vorteil für ältere Arbeitssuchende?
Schmid-Santer:
Ich würde nicht alle über einen Kamm scheren. Wichtig ist, dass Unternehmen und Arbeitnehmer flexible Modelle finden, die zu ihrer Lebenssituation passen. Wenn junge Eltern wieder einsteigen, ist das ein Familienprojekt. Da muss man zwischen Care-Arbeit, Hausarbeit und Erwerbsarbeit Kompromisse machen.

Im Sozial- und Pflegebereich steigen die Kollektivvertragsgehälter. Deckt der Sozialfonds diese Kosten?
Schmidt-Santer:
Nein. Unsere Leute sind angestellt und nach dem Kollektivvertrag eingestuft. Die Unternehmen tragen die Personalkostensteigerung selbst, über den Eigenerwirtschaftungsanteil, der zwischen 60 und 80 Prozent liegt. Dafür brauchen wir Aufträge von Gemeinden oder Wirtschaftsbetrieben. Wenn dort die Budgets sinken, fehlen uns Aufträge. Das zeigt, dass man das System groß betrachten muss – alle hängen mit drinnen.

„Jeder fehlende Euro wird mehrfach teurer“

Entsteht da Konkurrenz mit öffentlichen Trägern?
Schmid-Santer:
Nein, eine Konkurrenz gibt es da nicht. Gemeinden sind froh, dass sie uns beauftragen können. Beispiele sind Spielplatzgestaltung bei Aqua Mühle und Integra oder die Straßenreinigung bei Kaplan Bonetti. Wichtig ist, dass die Aufträge zu den Menschen passen, die bei uns arbeiten.

Welche Rolle spielen Unterstützungsleistungen wie die Wohnbeihilfe?
Schmid-Santer:
Sie helfen, aber das Wichtigste ist ein Arbeitsplatz und eigenes Einkommen. Das stärkt den Selbstwert am meisten. Jede Absage, jedes Nicht-Reagieren senkt den Selbstwert. Darum ist die Kombination von Beschäftigung und sozialpädagogischer Begleitung so zentral.

Kann ein Grundeinkommen die Lösung sein?
Schmid-Santer:
Es kann Sorgen nehmen, und jede Sorge weniger stärkt den Selbstwert. Aber ein Grundeinkommen löst nicht alles. Ich glaube, der große Überbegriff ist Solidarität, also das Geben und Nehmen, auf dem unser Sozialsystem beruht.

„Jeder fehlende Euro wird mehrfach teurer“
Ulrike Schmid-Santer im Gespräch mit ihren Kolleginnen Marion Allgäuer und Carolin Bachmann in den Werkstätten von Kaplan Bonetti.

Was erwarten Sie vom Land Vorarlberg?
Schmid-Santer:
Finanziell ist das AMS vom Bund abhängig. Aber das Land kann immer ansetzen: Offenheit zeigen, Expertise einholen, gemeinsam an Lösungen arbeiten. Wichtig ist, keine Überschriftenpolitik zu machen, sondern nachhaltige Rahmenbedingungen zu schaffen.

Was bringt die Zukunft am Arbeitsmarkt?
Schmid-Santer:
Wir sind im dritten Jahr der Rezession. Die Langzeitarbeitslosigkeit wird noch eine Weile steigen. Es gibt Sockelarbeitslosigkeit – Menschen, die aus verschiedensten Gründen nicht mehr in reguläre Jobs kommen. Wir brauchen neue Modelle, damit alle, die arbeiten können und wollen, auch Arbeit finden.

Welche Forderungen stellen Sie?
Schmid-Santer:
Die erste Forderung wäre ein antizyklisches Budget. Wenn die Arbeitslosigkeit steigt, müssen auch die Budgets steigen. Zweitens braucht es längere Förderperioden. Ein Jahr ist für Unternehmen viel zu kurz, um zu planen. Als dritten Punkt plädieren wir für eine soziale Vergabe. Viele öffentliche Aufträge könnten soziale Kriterien enthalten. Das würde unseren Eigenerwirtschaftungsanteil absichern.

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Zur Person

Ulrike Schmid-Santer

ist seit Mai 2024 Geschäftsführerin von arbeit plus – Soziale Unternehmen Vorarl­berg, das Netzwerk von fünf Vorarlberger Sozialunternehmen. Zuvor war sie fast 20 Jahre lang in leitender Funktion bei Aqua Mühle Vorarlberg tätig. Die ausgebildete Sozialmanagerin gilt als Expertin für Arbeitsmarktintegration, Projektfinanzierung und Netzwerkpolitik.