Politik

“Der Algorithmus unterdrückt die Parteien der Mitte”

HEUTE • 18:45 Uhr
"Der Algorithmus unterdrückt die Parteien der Mitte"
Die NEUE traf Andre Wolf am Rande der Landtagsenquete zum Interview. stiplovsek (5)

Andre Wolf vom Verein Mimikama spricht über Fake News, KI-generierten Deepfakes, Social Media im Klassenzimmer und in der Politik und die Verantwortung der Eltern.

Sie setzen sich mit dem Verein „Mimikama“ für die Bekämpfung von Fake News und digitaler Desinformation ein. Welche Themen beschäftigen Sie hier momentan am meisten?
Andre Wolf: Wir haben eine Zeit der Polykrisen. Das in den Medien vorherrschende Thema wird auch von der meisten Desinformation begleitet. Zur Corona-Phase hatten wir eine große Welle an Desinformation. Als das abklang, kam der Angriffskrieg auf die Ukraine. Zu Beginn einer Krise sehen wir immer wieder einen eskalierenden Verlauf: Erst haben wir ein Loch, das wir mit allen Informationen füllen, ohne zu wissen, ob sie stimmen. Dann kommen konträre Darstellungen hinzu. Und wenn eine Krise alle betrifft, kommen Verschwörungstheorien ins Spiel. Momentan sind wir in einer eher ruhigen Phase. Es gibt einen großen Topf an Themen – USA, Ukraine, Nahost – aus dem aber nichts hervorsticht. Das kann sich jederzeit ändern.

Eine neue Form der Desinformation geht von KI-generierten Deepfakes aus. Wie unterschätzt sind sie und wohin können sie führen?
Wolf: Ich weiß nicht, ob sie unter- oder überschätzt wird. Im Moment ist KI im Alltag für uns eher ein Stückchen Popkultur: Wir nutzen ein bisschen ChatGPT hier, generieren ein paar lustige Bildchen da. Wenn es in Richtung Deepfakes geht – Videos, die überzeugend eine Situation darstellen, die so nicht existiert – müssen wir überprüfen, ob sie plausibel sind. Ich poche darauf: Schaut erst, was hinter einem Video steckt. Prüft, wer der Absender ist und ob dieser wirklich kompetent ist.

"Der Algorithmus unterdrückt die Parteien der Mitte"
Wolf sieht ChatGPT und Co. aktuell als “ein Stückchen Popkultur”.

Wie sehen Sie die Gefahr, dass autoritäre Regimes die KI als Propaganda-Werkzeug benutzen?
Wolf: Das wird kommen. Wir sehen das schon in der Wirtschaft: Es gibt eine große Autofirma, in deren Werbespot ein als KI-generiert gekennzeichnetes Fahrzeug vorkommt. Die Politik wird nachziehen. Es wird KI-generierte Videos geben, die auch als solche gekennzeichnet sind. Es geht darum, etwas zu visualisieren, was nicht existiert. Und diese Visualisierung manifestiert sich in unseren Köpfen. Obwohl wir wissen, dass das falsch ist, haben wir ein Bild einer Szenerie vor Ort. Ein Beispiel: Eine Partei hat mit einem KI-generierten Bild einen sechsspurigen Verkehrsstau im Burgenland inszeniert. Damit wurde die Verkehrspolitik von (Landeshauptmann) Doskozil kritisiert. Wir alle wissen, das Burgenland hat keine sechsspurigen Straßen. Es geht rein darum, das Verkehrschaos zu visualisieren.

Welche Kompetenzen müssen wir Kindern und Jugendlichen im Umgang mit Social Media, KI und Deepfakes mitgeben?
Wolf: Einerseits muss man verstehen, was Social Media ist und wie die Kommunikation dort funktioniert. Ich kommuniziere dort nicht mehr nur im Kleinen, sondern global. Zweitens, Manipulation: Sie hat immer schon gleich funktioniert, nur das Medium hat sich geändert. Wir müssen über Möglichkeiten reden, Manipulation zu entlarven – das klassische „Debunking“. Der nächste Schritt ist, im Vorfeld schon zu erkennen, wo man manipuliert werden könnte – das nennen wir „Prebunking“. Zum Schluss geht es auch um die klassische politische Bildung: Gesprächskulturen aufbauen, Selbstreflexion, Gesellschaft, Informationsgewinnung und Debattieren.

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Die NEUE im Gespräch mit Wolf im Landhaus-Foyer.

Wie stehen Sie zu einem Schulfach „Medienkompetenz“?
Wolf: Da gibt viele gute Ansätze. Von einem rate ich aber ab: Social Media oder Medienkompetenz hat nichts im Informatikunterricht verloren. Dort bringt dem Menschen bei, wie ein Computer funktioniert oder wie man ein Programm formulieren kann. Medienkompetenz kann interdisziplinär behandelt werden. Gesellschaftswissenschaftliche Bereiche oder der Deutschunterricht eignen sich sehr gut dafür. Bei der Landtagsenquete haben wir über ein Modell gesprochen, das einen Schultag in der Woche vorsieht, an dem man sich nur mit Social Media beschäftigt. Denn unsere Alltagsrealität sieht nun mal so aus, dass wir durchgehend mit Social Media konfrontiert sind, ob wir wollen oder nicht. Wir können nicht sagen, wir verbieten TikTok und alles ist gut. Somit müssen wir lernen, mit all diesen Möglichkeiten begleitend umzugehen: Immer, wenn Ängste, Sorgen und Probleme auftauchen, sollten junge Menschen eine reale Person finden können, die damit umgehen kann.

Eltern und Lehrpersonen sind oft aus einer anderen Generation, die wenig Berührungspunkte mit Social Media hat. Wie können sie diesen Informationsvorsprung ihrer Kinder aufholen?
Wolf: Sie haben keinen Informationsvorsprung, sie haben einen popkulturellen Vorsprung. Kinder wissen mit der Gestaltung von Inhalten und der Online-Kommunikation umzugehen. Das müssen wir lernen, um sie zu verstehen. Bei der Informationskultur stehen wir alle auf dem gleichen Level, hier müssen wir alle lernen. Generell: Desinformation wird gezielt gestaltet, je nach Zielgruppe. Auf TikTok geschieht sie komplett anders als für die ältere Generation auf Facebook. Wir müssen schauen: Wer nutzt die Social-Media-Plattformen auf welche Art und Weise?

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“Desinformation geschieht auf TikTok anders als auf Facebook”, erklärt der Experte.

Bei der deutschen Bundestagswahl waren die stärksten Kräfte bei den unter 25-Jährigen die Linke und die AfD, die beiden Parteien der politischen Ränder, die sehr aggressiv auf Social Media werben. Welche Tragweite hat diese Entwicklung? Und ist diese Entwicklung auch in Österreich erwartbar?
Wolf: Ich sehe hier eine logische Konsequenz. Kommunikation, Unterhaltung und Diskussion auf Social Media sind geprägt von Radikalität. Es gibt nur schwarz oder weiß, selten einen Konsens. Das spiegelt sich in der Politik wider. Die radikaleren Parteien können Social Media besser nutzen, weil ihre Schlagzeilen wesentlich mehr Aufmerksamkeit erzwingen. Das ist, was der Algorithmus will: triggern, provozieren, am besten rund um die Uhr. In Österreich haben wir das auch zu befürchten. Wir sehen jetzt schon teilweise, dass die KPÖ in urbanen Bereichen wesentlich mehr Stimmen bekommt als es früher der Fall war.

Provokant gefragt: Löscht der Algorithmus die Parteien der Mitte aus oder drängt er sie an den Rand?
Wolf: Er unterdrückt sie. Wenn eine Partei der Mitte auf Social Media in Erscheinung treten will, muss sie das durch radikale Aussagen machen, denn sonst ist sie nicht präsent. Wenn ich sage, ich bin für Bildung und für starke Renten, wird sich das keiner durchlesen. Aber wenn ich den Ausländern die Schuld für schwache Renten gebe, schauen sich die einen Leute das gerne an und die anderen kommentieren darunter, dass das nicht stimmt. Der Algorithmus hat gewonnen und die Partei hat auch gewonnen, weil sich viele Leute für ihr Thema interessieren.

"Der Algorithmus unterdrückt die Parteien der Mitte"
Wolf spricht sich gegen ein Social-Media-Verbot für Kinder unter 16 aus.

In Österreich wird ein Social-Media-Verbot für Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren diskutiert, wie es in Australien bereits eingeführt wurde. Was halten Sie von diesem Vorstoß?
Wolf: Ich habe eine klare Ansicht: Nein. Wenn wir TikTok, Facebook und Instagram für Jugendliche verbieten, ist gar nichts erreicht. Ein Video, das auf TikTok ist, kann heruntergeladen und über WhatsApp verbreitet werden. Das heißt, ich muss jede Form von Social-Media-Plattform für unter 16-Jährige verbieten. Dazu gehören WhatsApp, alle Formen von Messengern und sämtliche Spieleplattformen – also jegliche Art der digitalen Kommunikation, die in Gruppen und interaktiv gestaltet ist. Können wir das? Die Kommunikationsstruktur würde zusammenbrechen. Ich wäre für eine alternative Lösung: begleiteter Umgang mit Social Media. Es gibt bereits die Altersgrenze mit 13 Jahren. Wir müssen den Eltern klarmachen, dass jüngere Menschen gar nicht erst an diesen Plattformen teilnehmen dürfen. Warum sind sie dennoch dabei? Weil die Eltern es erlaubt haben. Dann sind nicht die jungen Menschen schuld. Liebe Eltern, ihr könnt euch aufregen, wie ihr wollt, aber ihr habt es erlaubt. Und kommt mir nicht mit Gruppenzwang, das ist ein Totschlagargument. Denn dann muss man sich fragen, warum die anderen Zugang haben. Hier braucht es Sanktionen gegen Eltern, die das erlauben.

zur person

Andre Wolf (Jg. 1977) ist Pressesprecher und Social-Media-Koordinator beim Verein Mimikama, der sich der Aufklärung und Enttarnung von Fake News und Desinformation verschrieben hat. Bei der Landtagsenquete am Mittwoch referierte Wolf im Landhaus in Bregenz zu Meidenkompetenz, Falschnachrichten und künstlicher Intelligenz.