Wenn die Worte fehlen, hilft Musik

Im Aphasie-Chor in Dornbirn finden Menschen, die nach einem Schlaganfall ihre Sprache verloren haben, durch gemeinsames Singen zu neuer Lebensfreude.
Man kennt sich, begrüßt sich herzlich. Der Saal im „Treffpunkt an der Ach“ füllt sich, und die Vorfreude ist allen anzumerken. Stimmen, Gelächter, ein Summen von Erwartung liegt in der Luft. Bald wird hier gesungen und das von Menschen, die nicht mehr sprechen können.

Neurologisch betrachtet sitze das Sprachzentrum in der linken Hirnhälfte, das musikalische Zentrum dagegen rechts. Genau hier setzt der Aphasie-Chor an. Denn viele Schlaganfall-Patienten, die ihre Sprache verloren haben, können dennoch singen. Musik öffnet Türen, wo sie Worten verschlossen bleiben.

Ein Chor, der Hoffnung singt
Die Chorleiterin Evelyn Fink-Mennel, Lehrende an der Musikschule Stella, steht vorne. Neben ihr ihre Mutter, die die Sänger mit verschiedenen Instrumenten begleitet. „Jetzt wärmen wir uns erst mal auf!“, ruft Fink-Mennel gutgelaunt und schon werden Arme geschüttelt, Lippen gelockert, Schultern gelöst. Musikpädagogin Ingrid Zumtobel-Amann leitet die Übungen an: sprechen, mobilisieren, wach werden. Alle Sinne aktivieren – und los geht’s.

Die Teilnehmenden kommen aus ganz Vorarlberg, von Maximilian (33), der nach einem Unfall nicht mehr sprechen kann, bis zu Anna (89), der ältesten Sängerin. Schon nach wenigen Minuten füllt sich der Raum mit Energie. Die Stimmen finden zusammen, vorsichtig zuerst, dann selbstbewusster. Lieder im Kanon und plötzlich klingt es, als hätte niemand je ein Wort verloren.
Lieder, die verbinden
Heute sind auch Schüler der Schule für Sozialbetreuungsberufe (SOB) Bregenz zu Gast. Sie haben drei Lieder vorbereitet, die gut ins Repertoire passen. „Heidi“ erklingt, die Jodel-Passage wird mit Begeisterung geprobt. Dann „Und jetzt gang i ans Peters Brünnele“, mit Bewegungen, die Lachen und Mobilität zugleich fördern. Das Eis ist gebrochen. Musik schafft Verbindung, wo es Worte nicht können.

„Im Wagen vor mir“ schlägt ein älterer Herr vor. Bald stimmen alle ein und das gemeinsame Lächeln ist größer als jeder Textfehler. „Wahre Freundschaft“, „Rote Lippen soll man küssen“, „Oho Vorarlberg“. Jede Melodie weckt Erinnerungen, jede Note stärkt das Miteinander.
Gast aus Duisburg
Jörg Luchtenberg ist zum Aphasie-Chor acht Stunden mit dem Zug aus Duisburg angereist und das erste Mal dabei. „Nach 20 Operationen fällt mir das Sprechen schwer. Aber hier herrscht so viel positive Energie. Da will man einfach mitmachen“, sagt er. „Solche Treffen helfen, nicht in eine Depression zu verfallen.“

Auch Maximilians Mutter spürt die Wirkung: „Er blüht hier richtig auf. Manchmal muss ich ihn bremsen vor lauter Euphorie. Er freut sich jeden Monat auf diesen Tag.“
Sprache durch Musik
Ingenieur Gerd Harder erlitt vor zweieinhalb Jahren einen Schlaganfall. „Alles war weg. Ich musste sogar neu lernen, Farben zu benennen. Hier verstehen mich alle. Vieles geht mit Singen besser.

Dass Musik mehr kann als so manche Therapieeinheit, weiß Chorleiterin Fink-Mennel: „Es geht nicht um musikalische Perfektion, sondern um Freude, Gemeinschaft und Lebensqualität. So kann Sprache wieder ihren Weg finden.“

Ein Projekt mit Kraft
Der Chor wurde Anfang 2024 von Othmar Walser gegründet, der selbst nach einem Schlaganfall an Aphasie leidet. Aus eigener Erfahrung weiß er, wie isoliert Betroffene oft sind. „Wenn niemand etwas tut, passiert auch nichts“, sagt er. Deshalb gründete er den Verein Österreich Schlaganfall & Aphasie Bewältigung (VÖS&AB), um Betroffenen Austausch, Training und Lebensfreude zu ermöglichen. Der Chor trifft sich einmal im Monat, finanziert wird er weitgehend ehrenamtlich. Für Walser ist das Engagement eine Herzenssache und ein Appell an die Gesellschaft, mehr in Prävention und Nachsorge zu investieren.

Am Ende der Probe hallen die letzten Töne von „Aber dich gibt’s nur einmal für mich“ durch den Raum. Manche wischen sich die Augen, andere lachen. Die Musik klingt noch lange nach, in den Gesichtern, in den Bewegungen, im Gefühl, wieder Teil von etwas zu sein.