Vorarlberg

“Die algerische Polizei nahm unsere Pässe und Handys ab”

04.10.2024 • 08:00 Uhr
Recherche Tiertransporte Algerien
Durch Kontakte vor Ort gelang es „The Marker“, Zutritt zu algerischen Ställe zu erhalten. themarker.org

Über zwei Jahre lang gingen Tobias Giesinger und Ann-Kathrin Freude mit der Dornbirner Rechercheplattform „The Marker“ Rindertransporten von Österreich nach Algerien auf die Spur.

“Eigentlich bin ich ein stiller Mensch, aber wenn es um Tiertransporte und die Arbeit bei ‘The Marker’ geht, könnte ich stundenlang darüber reden”, gesteht Tobias Giesinger am Rande des Gesprächs mit der NEUE. Er hat gemeinsam mit Ann-Kathrin Freude das investigativen Recherche-Netzwerk “The Marker” gegründet. Gemeinsam sorgten die beiden Vorarlberger mit einer zweijährigen Recherche zu Tiertransporten von Österreich nach Algerien für ein nationales Medienecho. Die NEUE hat das Rechercheteam von “The Marker” anlässlich des Welttierschutztages am 4. Oktober getroffen.

Engagement statt Bürojob

Ann-Kathrin Freude und Tobias Giesinger setzen sich schon lange für Tierrechte ein. “Ich habe irgendwann den Unterschied zwischen meiner Katze und einem Huhn nicht mehr verstanden. Wieso esse ich das eine und das andere nicht? So bin ich drauf gekommen, dass in der Nutztierhaltung sehr viel falsch läuft und dass damit zusammenhängend auch die Umwelt sehr beeinträchtigt wird”, erzählt Freude. Die studierte Architektin habe “einfach nicht mehr im Büro sitzen und Pläne zeichnen” können, in dem Wissen, wie viel systematisches Tierleid, Umweltverschmutzung und Menschenrechtsverletzungen passieren. Bei Giesinger war es ähnlich: Der Elektronikentwickler habe ein schlechtes Gewissen gehabt, einfach im Büro zu sitzen, während so viel Tierleid geschieht. Also engagierten sie sich.

Ann-Kathrin Freude und Tobias Giesinger von der Rechercheplattform „The Marker“.
Die NEUE traf das Duo in ihrem Büro, einem Co-Working-Space in Dornbirn. hartinger

Zunächst waren beide beim Verein gegen Tierfabriken (VGT) aktiv. Dort wirkten sie unter anderem 2016 dabei mit, den medial als “Fleischskandal” bezeichneten Missstand in Lustenau aufzudecken. “Schweine aus Deutschland wurden mit einem dreistöckig beladenen Anhänger nach Vorarlberg transportiert. Der Anhänger wurde im Lustenauer Ried abgestellt. In der Nacht oder früh am Morgen kamen kleine Metzgereien und holten dort Schweine zum für die Schlachtung ab”, berichtet Giesinger.

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Der Skandal schlug hohe Wellen – auch, weil Giesinger, Freude und ihre Kollegen tiefgründig recherchierten. “Es hat alles angefangen mit einem anonymen Hinweis. Jetzt könnte man sagen: Schaut her, hier steht jede Woche illegal ein Schweineanhänger. Wir machen Fotos davon, bringen das zur Anzeige und machen eine Medienstory daraus. Aber ich wollte unbedingt wissen, wo die Schweine und der Anhänger herkommen”, berichtet Giesinger. Also verfolgte er die Metzger und den Anhänger, recherchierte den ganzen Hintergrund und erst dann ging der VGT an die Öffentlichkeit.

Vollständigkeit bei der Recherche

“Wir haben damals schon in die Richtung gearbeitet, weil wir gemerkt haben, es reicht nicht. Damit sich auch wirklich was verändert, braucht es die Zusammenhänge. Sonst zeige ich auf Symptome und das System dahinter ist nicht angefasst”, erklärt Ann-Kathrin Freude. Mit dieser Motivation gründete sie gemeinsam mit Tobias Giesinger “The Marker”.

Recherche Tiertransporte Algerien
Mit ihren Recherchen wollen sie das System hinter Tierleid aufdecken. themarker.org

Im ersten großen Rechercheprojekt nahm “The Marker” Rinderexporte nach Algerien unter die Lupe. Freude klärt über die gesetzliche Lage auf: “Eigentlich sind Drittlandexporte verboten, abgesehen von einer Liste mit einigen Ländern. Da ist Algerien nicht drauf. Der Export ist allerdings legal, wenn du schaffst, die Tiere mit nur einer Pause von Österreich bis zu einem Hafen zu transportieren. Sobald man auf dem Schiff ist, zählt die Zeit des Transports nicht mehr weiter. Dieses Gesetz ist also eine Nullnummer.”

Ann-Kathrin Freude und Tobias Giesinger von der Rechercheplattform „The Marker“.
Ann-Kathrin Freude klärt über die gesetzliche Lage auf. Hartinger

Als ein Informationsperson “The Marker” von einem Gespräch erzählt, werden die Beiden hellhörig: Die Person verfolgte im Bregenzerwald mit, wie sich ein Viehhändler mit einer algerischen Importfirma über Transportrouten austauschte. Also verfolgen Giesinger und Freude den gesamten Weg österreichischer Rinder bis nach Algerien. “Wir sind einfach mal auf eine Versteigerung in Oberösterreich gefahren, um uns ein Bild zu machen. Die Stimmung dort war ganz komisch”, berichtet das investigative Duo. “Die Bauern verkaufen ihre Tiere an die Zuchtverbände und die vermitteln sie weiter an die Exportfirmen.”

Zweieinhalb Wochen im Auto vor dem Hafen campiert

Genau diesen Exportfirmen folgten die beiden zweimal bis zum Hafen nach Frankreich. “Beim ersten Mal wurden wir auf weitere Missstände aufmerksam. Eigentlich müssten die Tiere 24 Stunden Pause machen, bevor sie verschifft werden. Aber sie wurden direkt vom Transporter auf das Schiff getrieben”, berichtet Tobias Giesinger. “Beim zweiten Mal haben zweieinhalb Wochen im Auto vor dem Hafen campiert, weil wir nicht wussten, wann das Schiff losfährt”, fügt Ann-Kathrin Freude hinzu.

Recherche Tiertransporte Algerien
Mit Handyaufnahmen dokumentierte “The Marker”, wie die Rinder auf die Schiffe verladen wurden. themarker.org

Als das Schiff wegfuhr, dachten die Beiden sich: “Das kann doch nicht das Ende der Geschichte sein!” Sie wollen wissen, was mit den Tieren in Nordafrika geschieht. Also entschlossen sie sich zu einer Reise nach Algerien.

Undercover im Militärstaat

Dazu muss man wissen: Die algerische Militärregierung verbietet, Kamaras, Ferngläser oder bestimmte ausländische Literatur in das Land einzuführen. Die Polizei kontrolliert Einreisende streng, wie auch “The Marker” feststellen musste. “Alleine auf dem Weg vom Flughafen zum Hotel mussten wir durch fünf Checkpoints”, erklären Freude und Giesinger, die mit einem insgesamt fünfköpfigen Team in die Hauptstadt Algier reiste. Mangels Mietautos reiste “The Marker” per Taxi zu einer Moschee in der Nähe eines Schlachthofes, den sie besichtigen wollten. “Dort wartete schon die Polizei, die unsere Pässe abnahm und auf unseren Handys kontrollierte, welche Fotos wir gemacht haben”, erzählt Giesinger. Als die Beamten dort nichts Verdächtiges fanden, riefen sie ein Taxi zurück zum Hotel und gaben den Undercover-Journalisten ihre Pässe und Handys wieder zurück.

Ann-Kathrin Freude und Tobias Giesinger von der Rechercheplattform „The Marker“.
Freude und Giesinger berichten von heiklen Momenten aus einem Land, in dem die Pressefreiheit stark eingeschränkt ist. Hartinger

Durch diese Situation freundeten sich die Investigativjournalisten mit einem ihrer Taxifahrer an, der über Bekannte dem Team Kontakte vermitteln konnte. Es gelang Freude, Giesinger und ihrem Team, Importställe, Viehmärkte und Schlachthöfe zu besichtigen, heimlich Aufnahmen davon anzufertigen und einige der aus Österreich verschifften Rinder wiederzufinden. Trotzdem: Die Angst vor der Überwachung durch die Polizei sei allgegenwärtig gewesen, berichten sie. Zurück im Hotel sicherten sie alle Aufnahmen extern, um bei weiteren Handykontrollen nicht verdächtig zu wirken.

Recherche Tiertransporte Algerien
Heimlich filmt Tobias Giesinger in einem Stall in Algerien. themarker.org

Nach zehn Tagen heimlicher Recherchearbeit kehrte “The Marker” unversehrt wieder zurück nach Österreich. Dort stellten Giesinger und Freude Anfragen an Ministerien und Parteien und veröffentlichten schließlich Anfang dieses Jahres die Ergebnisse von zwei Jahren Recherche.

Medienecho

Die Reaktionen auf die Veröffentlichung hatten es in sich: “Es wurden parlamentarische Anfragen gestellt und Anträge für Gesetzesänderungen. Viele Menschen äußerten sich auf Social Media und sagten, dass sie Drittland-Exporte nicht okay finden”, erzählt Giesinger begeistert und fügt an: “Auch das Medienecho war überwältigend. Der ORF berichtet zuerst, dann viele weitere Medien. In der Kronen-Zeitung hatten unsere Recherche eine Millionen-Leserschaft.”

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Auch die Rinderzuchtverbände meldeten sich – mit einer Klagsdrohung an die Medienhäuser. “Darauf waren wir vorbereitet”, gesteht Freude. “Wir haben in einer Stellungnahme unsere ganze Arbeitsweise mit Beweisen dargelegt.” Die Kennzeichen der Lkws, die Abfahrtszeiten des Schiffs, vergleichende Bilder, die nachwiesen, dass es sich um dieselben Rinder handelt – die Recherche ist wasserfest. Es folgte eine Entschuldigung des Dachverbands, mehr aber auch nicht. Weitere Nachfragen von Medien wurden abgeblockt, berichten die beiden Journalisten.

Durch Spenden finanziert

Eine derart aufwändige Recherche braucht natürlich finanzielle Mittel. Alle, die an der Recherche beteiligt waren, haben daneben noch Jobs – etwa die rechtliche Beratungsperson von „The Marker“. Nur Ann-Kathrin Freude und Tobias Giesinger leben praktisch „für“ ihr Start-up. Aktuell finanzieren sie “The Marker” mit privaten Ersparnissen, die Kosten für die aufwändigen Recherchen sollen in Zukunft aber durch Spenden gedeckt werden.

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Das Thema Rinderexporte beschäftigt „The Marker“ weiterhin, derzeit gehen sie der Spur von nach Algerien exportierten Rindern nach. „Wir sehen uns als konstruktive Journalisten. Wir zeigen Dinge auf, die nicht gut laufen, und möchten erreichen, dass sie sich verbessern“, erklärt Freude die Ausrichtung von „The Marker“. Man darf gespannt sein, was ihre Recherchen in Zukunft noch aufdecken werden.