Ihre Tante wurde vom NS-Regime ermordet

Anna Hotz, die Tante von Katharina Hotz, Irma Kerber und Hans Hotz fiel 1942 der NS-Euthanasie zum Opfer. Gemeinsam mit Historiker Werner Schelling erinnern sie sich zurück an diese dunkle Zeit.
Unter dem Überbegriff der “Euthanasie” verfolgte und ermordete das nationalsozialistische Regime zur Zeit des Dritten Reiches tausende Menschen, die an einer geistigen Behinderung litten. Viele Opfer stammen aus Vorarlberg. Historiker Werner Schelling, der auch Teil der Gedenkgruppe Bregenz ist, hat für den Band “Nationalsozialismus erinnern” die Schicksale von Bregenzer Opfern der NS-Euthanasie recherchiert und zu Papier gebracht. So auch die Geschichte von Anna Hotz, die 1942 in der Anstalt Linz-Niedernhart ermordet wurde.

Für die Recherche trat Werner Schelling in Kontakt mit Angehörigen der NS-Euthanasieopfer. Anna Hotz war die Tante von Irma Kerber (*1934), Hans Hotz (*1935) und Katharina Hotz (*1939), die heute noch in Bregenz wohnen. Die NEUE hat die Geschwister und den Historiker zu einer gemeinsamen Gesprächsrunde im Haus, in dem getroffen, um über Erinnerungen an Anna Hotz und an das Leben im NS-Reich zu sprechen.
Hintergrund: Das grausame Schicksal der Anna Hotz
Zunächst zur Geschichte von Anna Hotz: Sie kam am 14. April 1904 als fünftes Kind von Oskar und Agathe Hotz in Bregenz zur Welt. Im Alter von 14 Jahren traten bei „Anni“, wie sie gerufen wurde, immer häufiger epileptische Anfälle auf, dazu litt sie an einer geistigen Behinderung. Familienerzählungen zufolge soll das an einer Pockenimpfung gelegen haben, damals kam es öfters zu Erkrankungen aufgrund verunreinigter Impfnadeln.
Bis zum Anfang der 1930er-Jahre konnte Anna Hotz von ihrer Familie betreut werden. Aus den Aufzeichnungen ist überliefert, dass sich Anna Hotz immer wieder in einem „Dämmerzustand“ befand und nachts gelegentlich von zu Hause weglief – einmal fand man sie am Bodenseeufer, zweimal wurde sie von der Polizei aufgegriffen. Als das nicht mehr möglich war, wurde sie im Jänner 1930 nach Rankweil-Valduna in die damalige „Landesirrenanstalt“ überstellt. Auch wenn sie nach rund einem Monat „gebessert“ entlassen werden konnten, folgten bis 1933 drei weitere Valduna-Aufenthalte.

Nach dem Anschluss Österreichs 1938 an das Deutsche Reich wurden auch hierzulande Menschen verfolgt, deren Leben vom Nazi-Regime als „unwert“ angesehen wurde – so auch Anna Hotz. Theodor Leubner, Leiter des Gesundheitsamts des Landrats Bregenz, erstellte im November 1941 ein amtsärztliches Gutachten, wonach sie Anstaltspflege in der Gau-Heil- und Pflegeanstalt Hall in Tirol erhalten müsse. Bis der Landrat die Aufnahme dort beantragte, vergingen drei Monate, bis Oskar Hotz seine Tochter nach Hall überstellte, nochmals sechs Wochen.
Am 23. April 1942 traf Anna Hotz mit ihrem Vater in Hall ein. Am 31. August 1942 wurde Anna Hotz als eine von 60 Patienten in die Anstalt Linz-Niedernhart überstellt. Dort wurden hunderte Patienten durch eine Überdosierung von Arzneimitteln zu Tode gespritzt. Auch Anna Hotz ereilte dieses Schicksal. Sie wurde nur 38 Jahre alt.
Erinnerungen
„Meine erste Erinnerung an die Anni ist, dass sie am Boden gelegen ist und gezittert hat“, erzählt Hans Hotz, Es habe sich hier um einen – wie man heute weiß – epileptischen Anfall gehandelt. „Wenn wir zu Besuch gekommen sind, hat unsere Großmutter Anni gebeten, in ihr Zimmer zu gehen. Für uns Kinder war es natürlich ein großer Schreck, wenn wir einen epileptischen Anfall miterlebt haben“, berichtet Katharina Hotz.

Irma Kerber erinnert sich: „Sie ist im Hof herum geschlurft, an sich ging sie selten weg. Geredet hat sie nicht, sie brabbelte nur vor sich hin.“ Eine Tochter mit Behinderung zu haben, sei damals Grund zur Scham gewesen. „Man hat mit uns nicht darüber geredet.“

Auch als Anna Hotz im Jahr 1942 in die Anstalt nach Hall in Tirol einbestellt wurde, habe niemand darüber gesprochen. „Sie war einfach verschwunden“, berichten die Geschwister, die damals höchstens im Volksschulalter waren. „Möglicherweise hat man deswegen nicht darüber geredet, weil wir Kinder etwas Falsches sagen hätten können“, mutmaßt Hans Hotz. Erst Jahrzehnte später erfuhren die Geschwister, was ihrer Tante in Niedernhart in Wahrheit geschehen war.
Was damals geschah
“Wenn man über die NS-Euthanasie spricht, muss man zwischen verschiedenen Phasen und Formen unterscheiden. Angefangen hat es mit der Aktion ‘T4’, eine groß angelegte, zentral gesteuerte Tötungsaktion. Im Deutschen Reich hat man fünf Tötungsanstalten eingerichtet, eine davon im Schloss Hartheim bei Linz”, erklärt Werner Schelling. “Im Reich gab es auch einige gesonderte Tötungsaktionen. Als im Sommer 1942 Anna Hotz nach Oberösterreich überstellt wurde, ging das von einem Doktor Lohnauer aus. Der war Chefarzt der Psychiatrie in Linz-Niedernhart, der zuvor im Schloss Hartheim die Tötungen durchgeführt hatte.” Anna Hotz sollte in einer solchen von Lohnauer orchestrierten Sonderaktion ermordet werden.

“Nach der Ermordung erhielten die Angehörigen der Euthanasie-Opfer – auch die Familie Hotz – einen Brief, in dem ihnen mitgeteilt wurde, dass ihre Angehörige leider an einer Lungenentzündung verstorben sei”, führt der Historiker aus. Das war eine Lüge, denn die Euthanasie-Opfer starben an einer Überdosierung von Medikamenten. Aber so wollte das Regime verhindern, dass Mutmaßungen in der Bevölkerung aufkommen.
Anekdoten aus dunklen Zeiten
Wie gefährlich die Zeit im Dritten Reich war, daran können sich die Geschwister noch gut erinnern. „Ich wurde wegen Nichtigkeiten von meiner Lehrerin – einer alten Erz-Nationalsozialistin – vor der ganzen Klasse gerügt. Wäre ich keine gute Schülerin gewesen, wäre es happig geworden“, erzählt Irma Kerber. „Einmal habe ich einigen ausgehungerten russischen Gefangenen auf der Straße ein paar Tomaten gegeben. Meine Lehrerin wusste am nächsten Tag sofort Bescheid.“ Irgendjemand habe sie dabei beobachtet und denunziert, vermutet Kerber.

Auch Hans Hotz kann sich an eine Anekdote erinnern: „1944 war ich während den Ferien auf einer Alpe im Laternsertal. Als ich zurück zu Hause war, sagte ich, die Wetterprognose sei gut.“ Da habe man ihn angefahren: „Sei still!“ Hotz erklärt: „In Deutschland hieß es Wettervorhersage, in der Schweiz Wetterprognose. So wusste man, dass ich auf der Alpe verbotenerweise Schweizer Radio gehört hatte.“ Insgesamt habe man in einer Mischung aus Unbedarftheit und Vorsicht gelebt, berichten die Geschwister.

Mit dem heutigen Wissen über die Zeit und über das Schicksal von Anna Hotz nahmen die Geschwister mit Werner Schelling an Gedenkveranstaltungen an die NS-Euthanasieopfer aus Bregenz teil. „Diese Veranstaltungen bedeuten mir sehr viel. Mit welcher organisierten Grausamkeit das geschehen ist, macht mich sehr betroffen“, betont Katharina Hotz. Ihr Bruder fügt kopfschüttelnd hinzu: „Es ist unverständlich, dass es heute noch Leute gibt, die denken, dass das alles damals gut war.“