Vorarlberg

“Die Ukraine hält für Europa die Tür zu”

05.12.2025 • 18:39 Uhr
"Die Ukraine hält für Europa die Tür zu"
Valentin Fetz mit ukrainischer Flagge in der Karpaten, nahe der Bregenzer Partnerstadt Jaremtsche, an der er maßgeblich mitgewirkt hat. fetz (7), neue (1)

Valentin Fetz erzählt im Interview aus Lwiw, wie er mit „Building Bridges“ die Ukraine und die EU im Kleinen zusammenbringt, berichtet von der Lage vor Ort und befindet, dass Österreich trotz Neutralität Waffen an die Ukraine liefern könnte und sollte.

Während dieses Gesprächs befinden Sie sich gerade in einem Hotel in der westukrainischen Stadt Lwiw. Was führt Sie zu dieser Reise?
Valentin Fetz: Während meiner Arbeit für die Stadt Bregenz haben wir eine Partnerschaft mit der ukrainischen Stadt Jaremtsche aufgebaut. Dabei erkannten ich und eine Bekannte, die auf der ukrainischen Seite meinen Gegenpart übernommen hat, dass viel ungenütztes Potenzial auf der kommunalen Ebene zwischen der EU und der Ukraine vorhanden ist. Wir wollten ein Netzwerk schaffen, um das zu nutzen. Daraus ist unsere NGO „Building Bridges“ entstanden. Mit ihr arbeiten wir mit Städten und Gemeinden, aber auch Krankenhäusern, Vereinen, Schulen, Universitäten zusammen. Deshalb bin ich auch jetzt vor Ort. Es gehört zu meiner Aufgabe, regelmäßig im Land potenzielle Partner zu besuchen und bereits bestehende Kontakte zu pflegen.

"Die Ukraine hält für Europa die Tür zu"
Fetz im Videotelefonat aus seinem Hotel in Lwiw mit der NEUE.

Wie ist der Kontakt zwischen Bregenz und Jaremtsche entstanden? Damals gab es “Building Bridges” ja noch nicht.
Fetz: Bei einem Routinebesuch des ukrainischen Botschafter in Bregenz im Frühling 2023 gab es Gespräche, ob die Möglichkeit besteht, ausgemusterte Feuerwehrautos oder Krankenwagen in die Ukraine zu bringen. Daraus nahmen beiden Seiten viel Potenzial wahr und der Botschafter vermittelte uns den Kontakt nach Jaremtsche. Einige Monate später lud uns der Bürgermeister zum Besuch vor Ort ein. Das war ein sehr prägender Moment für alle, die diese Reise gemacht haben. Im selben Jahr gab es auch den Gegenbesuch. Uns war wichtig, dass beide Städte auf Augenhöhe miteinander agieren. Die Ukrainer wollen nicht bemitleidet werden. Aus der Städtepartnerschaft haben sich viele verschiedene Projekte entwickelt.

Interview Valentin Fetz
Valentin Fetz mit ukrainischen Kindern bei einem Besuch in Jaremtsche.

Zum Beispiel?
Fetz: Bei einem Besuch im Mai dieses Jahres war ein fünfköpfiges Team des LKH Bregenz dabei und hat mit dem Krankenhauspersonal vor Ort Erfahrungen ausgetauscht. Das ist auch für österreichische Spitalsmitarbeitende, die fast nie mit Schusswunden oder Explosionsverletzungen konfrontiert sind, aufschlussreich. Ein zweiter Punkt: Das BG Gallus in Bregenz hat zum zweiten Mal ein Ferienprogramm für Kinder und Jugendliche aus Jaremtsche auf die Beine gestellt. Das Erste war für diese so ein eindrückliches Erlebnis, dass die Stadt Jaremtsche nach der Rückkehr der Kinder in ihren beiden Schulen Deutsch als zusätzliche Fremdsprache eingeführt hat.

Die Aufgabe von „Building Bridges“ besteht also hauptsächlich aus Vermittlungsarbeit?
Fetz: Genau, wir begleiten Partner von der ersten Initiative bis zur langfristigen Betreuung. Denn die Gefahr ist groß, dass man anfangs motiviert ans Werk geht, aber die Initiative dann im Sand verläuft. Die Partnerschaften sollen aber eine Perspektive über den Krieg hinaus haben – die Ukraine wird schließlich wieder aufgebaut.

Interview Valentin Fetz
Fetz mit dem Bürgermeister und Vizebürgermeister von Jaremtsche vor dem Kindergarten, dessen Dach durch die Spenden aus Bregenz repariert werden konnte.

Wie sicher ist die Lage, wenn Sie wie aktuell in Lwiw vor Ort sind?
Fetz: Den Krieg merkt man überall. Auf den Straßen sieht man viel Militärpersonal, kriegsversehrte Menschen mit amputierten Gliedmaßen oder Denkmäler für gefallene Soldaten. Das Leben ist darauf eingestellt, dass es jederzeit Angriffe geben kann. In den Städten gibt es überall öffentlich zugängliche Luftschutzkeller. Besonders in der Nacht ist mindestens einmal Alarm. Das muss nicht zwangsläufig mit konkreten Angriffen verbunden sein, aber es ist eine Strategie des Aggressors, die Bevölkerung zu terrorisieren. Wenn du jede Nacht um drei Uhr aus dem Schlaf gerissen wirst, bist du irgendwann mürbe. In dem Hotel, wo ich jetzt bin, habe ich den Luxus, dass es einen eigenen Shelter gibt. Das ist nicht immer der Fall. Als ich in einem Appartement in Kiew war, musste ich beim Alarm immer in die U-Bahn-Station gehen. Aber nach bald vier Jahren Krieg haben die Menschen einen Weg gefunden, trotzdem einen Alltag zu leben, etwa mit Restaurantbesuchen, Geburtstagsfeiern oder Konzerten. Das darf man als Akt des Widerstands verstehen, sich trotz des Krieges nicht die schönen Seiten des Lebens nehmen zu lassen.

Interview Valentin Fetz
Eine der vielen Nächte, die der Bregenzer aufgrund von russischen Drohnenangriffen in der U-Bahn-Station von Kiew verbringen musste.

In Österreich nimmt man die Schreckensmeldungen aus der Ukraine nicht mehr unbedingt mit so viel Bestürzung auf, wie am Anfang des Angriffskriegs – fast schon wie eine „Kriegsmüdigkeit“. Wie problematisch ist das?
Fetz: Ich würde behaupten, dass die Kosten europäischer Länder für die Unterstützung der Ukraine gering sind im Vergleich zu dem, was die Ukraine gibt. Natürlich reden wir von viel Geld, aber durch dieses ersparen wir uns, dass wir tatsächlich mit Menschenleben bezahlen. Man muss sich bewusst sein, dass die Ukraine aktiv die Tür zuhält. Russland sieht die Ukraine als Anfangspunkt eines viel größeren Planes – sie ist nicht das endgültige Ziel, sondern der Auftakt. Die Menschen in der Ukraine kämpfen nicht nur für ihr Land, sondern auch für unsere Sicherheit.

“Die Menschen in der Ukraine kämpfen nicht nur für ihr Land, sondern auch für unsere Sicherheit.”

Valentin Fetz

Wie nehmen Sie die Diskussion um Österreichs Neutralität, auf die vor allem die FPÖ pocht, wahr?
Fetz: Es ist bemerkenswert, denn gerade die FPÖ war um die Jahrtausendwende herum eine treibende Kraft für einen Nato-Beitritt Österreichs. Aber offensichtlich kann man eine Position schnell verändern, wenn es gerade populär ist. Abgesehen davon ist der Rahmen der Neutralität noch nicht ausgereizt. Eine militärische Unterstützung für die Ukraine schließt sie aus meiner Sicht nicht aus.

Sie plädieren also für österreichische Waffenlieferungen an die Ukraine?
Fetz: Am Ende des Tages ist es günstiger für Österreich, ukrainische Soldaten mit Waffen auszustatten, als österreichische Soldaten in die Ukraine schicken zu müssen. Den Kopf halten eh die Ukrainer hin. Man kann ihnen dafür zumindest das Werkzeug in die Hand geben.

Interview Valentin Fetz
Die zerstörte Autobrücke von Irpin, nordwestlich von Kiew, ist nur ein Beispiel der Zerstörung, die der russiche Angriffskrieg anrichtet.

Der aktuelle Korruptionsskandal in der Regierung stellt das Vertrauen in die Ukraine infrage und ist Wasser auf die Mühlen der russlandfreundlichen Seite.
Fetz: Das ist indiskutabel und verwerflich, gerade in der sensiblen Situation, in der sich das Land befindet. Dazu möchte ich aber sagen: Die ukrainischen Medien und die ukrainischen Antikorruptionsbehörden haben diese Vorgänge aufgedeckt. Sonst würde man davon nichts wissen. In Russland gehört Korruption zur Staatsräson, nur wird sie nicht aufgedeckt, weil es dort keine freien Medien und Untersuchungsbehörden gibt. Die Menschen, die jetzt auf diese Korruptionsaffäre drauftreten, sagen gleichzeitig: „Vielleicht ist Putin schlecht, aber doch nicht das gesamte russische Volk. Da gibt es auch Leute, die den Krieg nicht wollen.“ Folgt man dieser Logik stringent, muss man das der ukrainischen Bevölkerung auch zugestehen. Es mag sein, dass es ukrainische Politiker mit Berührungspunkten zu Korruption gibt. Aber ich engagiere mich nicht für Selenskyj, seinen Außenminister oder Stabschef, sondern für die Menschen in der Ukraine.

Interview Valentin Fetz
Ein Schrottplatz für von russischen Granaten und Maschinengewehren zerstörten Autos in Irpin.

Wie bewerten Sie Donald Trumps ambivalente Rolle in den aktuellen Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland?
Fetz: Europa muss verstehen, dass die USA kein zuverlässiger Partner mehr sind. Wir müssen schleunigst schauen, dass Europa eigenständig verteidigungsfähig ist. Es war ein Fehler Europas, es sich lange gemütlich zu machen und zu sagen: “Wenn es hart auf hart kommt, sind die Vereinigten Staaten schon da.” Mit ihrer Macht hätten die USA die Möglichkeit, diesen Krieg rasch zu beenden. Es scheitert an der Führung und deren inkonsistenter Arbeit.

Ist ein Frieden in der Ukraine realistisch möglich, ohne dass das Land Gebiete an Russland abtritt?
Fetz: Russland hat augenscheinlich kein Interesse daran, diesen Krieg zu beenden. Sie beharren auf ihren maximalen Gebietsforderungen – da reden wir von Flächen, die doppelt so groß sind wie Ungarn. Da geht es um Familien und ihr Zuhause. Außerdem ist die Frage, welches Signal wir aussenden wollen. Wenn Russland mehr oder weniger ungestraft für seine Verbrechen davonkommt, ist das eine Einladung für China, sich Taiwan zu schnappen und für Nordkorea, in Südkorea einzumarschieren.

Interview Valentin Fetz
Valentin Fetz am Maidanplatz in Kiew.

Wie lange kann die Ukraine noch die Tür zuhalten, wie Sie es beschrieben haben?
Fetz: Es hängt von vielen Faktoren ab – etwa davon, wie lange die Verbündeten bereit sind, für ihre eigene Verteidigung die Ukraine zu unterstützen. Ich bin mit vielen Menschen befreundet, die in unterschiedlichen Einheiten der ukrainischen Armee kämpfen, und schreibe mit ihnen fast täglich. Die sagen alle: „Bevor ich einen Tag unter russischer Okkupation leben muss, bin ich lieber tot.“ In dieser Klarheit zeigen diese Aussagen auch, wozu sie bereit sind, um für ihre und unsere Freiheit zu kämpfen. Vielleicht sollten wir uns auch die Frage stellen, wie lange Russland in der Lage ist, diesen Krieg aufrechtzuerhalten. Eine Frieden auf Papier, der mehr schlecht als recht hält, gibt Putin nur mehr Zeit, sich vorzubereiten. Es gibt ganz klare Berichte, die besagen, dass die russische Kriegsindustrie im Augenblick gerade massiv Panzer produziert. Man muss wissen, dass in der Ukraine kein Bewegungskrieg, sondern ein Stellungskrieg stattfindet. In einem solchen finden Panzer so gut wie keine Anwendung. Das heißt, die Russen produzieren mehr Panzer, als sie in der Ukraine gerade anwenden. Wenn das kein Zeichen dafür ist, dass sie sich auf etwas anderes vorbereiten, dann weiß ich auch nicht.

Was macht den Menschen in der Ukraine und Ihnen persönlich trotz dieser wenig optimistischen Aussicht Hoffnung?
Fetz: Ein starkes, kollektives Zusammenhalten. Der Krieg schweißt dieses Land auf eine tragische Art und Weise massiv zusammen. Das treibt mich positiv an.

zur person

Valentin Fetz (30) war Sprecher des Bregenzer Bürgermeisters Michael Ritsch und half in dieser Rolle dabei, die Partnerschaft zwischen der Landeshauptstadt und Jaremtsche aufzubauen. Daraus entstand sein Engagement für die NGO „Building Bridges“, bei dem er weitere Städte und Organisationen aus der EU und der Ukraine verbindet. Der Bregenzer wohnt aktuell in der tschechischen Hauptstadt Prag.