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“Solange wir Inklusion nicht auf allen Ebenen leben, ist unsere Arbeit notwendig”

11.10.2025 • 11:30 Uhr
"Solange wir Inklusion nicht auf allen Ebenen leben, ist unsere Arbeit notwendig"
Karin Stöckler und Georg Fritsch kämpfen für Barrierefreiheit. Stiplovsek

50 Jahre Interessensvertretung für Menschen mit Behinderungen: Präsidentin Karin Stöckler und ihr Vize Georg Fritsch meistern täglich Hürden, die andere gerne übersehen.

NEUE am Sonntag: Der ÖZIV Vorarlberg feiert heuer sein 50-jähriges Bestehen. Wie war die Jubiläumsfeier für Sie ganz persönlich?

Karin Stöckler: Sehr berührend. Es war ein Tag voller Emotionen – Freude, Stolz, aber auch Wehmut. Wenn man auf fünf Jahrzehnte zurückblickt, dann sieht man Gesichter, hört Stimmen, die nicht mehr da sind, erinnert sich an die ersten Treffen in kleinen Räumen, an improvisierte Büros, an engagierte Menschen, die einfach gesagt haben: Wir müssen etwas tun. Bei der Feier habe ich gespürt, wie viel Zusammenhalt und Wertschätzung in diesem Verein steckt. Das war unglaublich schön. Ich habe mir alte Fotos angesehen, Filme von früher, Menschen wiedergetroffen, die mich seit Jahrzehnten begleiten. Das hat mich tief bewegt. Und gleichzeitig war da dieses Bewusstsein: Wir sind noch lange nicht am Ende. Solange wir Inklusion nicht auf allen Ebenen leben, ist unsere Arbeit notwendig.

NEUE am Sonntag: Wie hat sich der Verein seit seiner Gründung verändert?

Stöckler: Anfangs war der ÖZIV ein kleiner Zusammenschluss, getragen von Ehrenamt und persönlicher Initiative. Heute sind wir eine anerkannte Organisation in der Soziallandschaft in Vorarlberg. Früher hat man sich in privaten Räumen getroffen, Pakete im Keller gepackt und mit sehr bescheidenen Mitteln gearbeitet. Heute verfügen wir über Büros, hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, eigene Projekte, Beratungsstellen. Aber der Kern ist gleich geblieben: Es geht um Menschen, die für andere Menschen eintreten. 

"Solange wir Inklusion nicht auf allen Ebenen leben, ist unsere Arbeit notwendig"
Interview der NEUE am Sonntag beim ÖZIV Vorarlberg in Bregenz. Stiplovsek

NEUE am Sonntag: Herr Fritsch, Sie sind Vizepräsident. Wie hat Ihr Engagement beim ÖZIV begonnen?

Georg Fritsch: Ich war lange einfach stilles Mitglied. Karin hat 2010 gesagt: „Dich könnten wir brauchen.“ Und so kam eins zum anderen – kurze Zeit später wurde ich in den Vorstand gewählt. Ich habe dann im Projekt Support mitgearbeitet, das Beratung und Coaching für Menschen mit Behinderungen bietet. Dieses Projekt ist österreichweit einzigartig, jedes Bundesland hat eigene Coaches. Ich habe gesehen, wie wichtig diese Arbeit ist – Menschen zu stärken, ihnen Mut zu machen, ihren Platz im Leben zu finden. Nach einer schweren Corona-Erkrankung 2021, die mich 70 Tage auf die Intensivstation gebracht hat, war es für mich fast ein Wunder, dass ich wieder zurückkehren konnte. 

NEUE am Sonntag: Was sind für Sie die größten Erfolge, die der ÖZIV in diesen 50 Jahren erreicht hat?

Stöckler: Wir konnten viel bewegen: Die Einführung des Pflegegelds, die kontinuierliche Verbesserung der Lebensqualität von Menschen mit Behinderungen, die Hilfsmittelzentrale mit Werkstatt und Verleihsystem, unsere Rollstuhl-Parcours und Schulprojekte, in denen Kinder und Erwachsene erleben, was Barrieren bedeuten. Auch unser Projekt Support ist ein Meilenstein. Besonders stolz bin ich auf die Öffentlichkeitsarbeit, die wir aufgebaut haben. Wir sind sichtbar geworden, und das war früher keineswegs selbstverständlich. Aber gleichzeitig muss ich sagen: Ehrenamt allein reicht heute nicht mehr. Wir brauchen hauptamtliche Strukturen, um diese Arbeit leisten zu können. Das kostet Geld – und genau das wird immer schwieriger.

"Solange wir Inklusion nicht auf allen Ebenen leben, ist unsere Arbeit notwendig"
Karin Stöckler gewährt Einblick in ihr Tun.Stiplovsek

NEUE am Sonntag: Wie steht es derzeit um die Finanzierung des Vereins?

Stöckler: Wir sind stark auf die Unterstützung der öffentlichen Hand angewiesen. Ohne Förderungen könnten wir nicht überleben. Die Landesrätin hat uns beim Jubiläum zugesichert, dass es keine Kürzungen geben wird – das hoffen wir sehr. Aber jeder Euro zählt. Wir finanzieren uns über Subventionen, Mitgliedsbeiträge und Spenden. Leider sind die Spenden rückläufig. Gleichzeitig steigen die Kosten für Personal, Infrastruktur und Wartung. Ein aktuelles Beispiel: Das Dach unseres Gebäudes muss saniert werden – das ist eine Belastung, die wir kaum stemmen können. Es ist manchmal ein Kampf um jeden Euro, um weiterarbeiten zu können. Wir gehören nicht zu den großen Institutionen, die Millionenbudgets verwalten. 

NEUE am Sonntag: Wie barrierefrei ist Vorarlberg heute – sowohl im Alltag als auch in der Gesellschaft?

Stöckler: Es hat sich vieles verbessert. Die Menschen sind aufmerksamer, die Sensibilität ist größer geworden. Junge Menschen helfen selbstverständlich, und viele Städte achten stärker auf barrierefreie Zugänge. Aber trotzdem: Es gibt noch zu viele Stolpersteine. Kopfsteinpflaster, hohe Bordsteine, defekte Lifte – das ist Realität. Und es gibt immer noch Barrieren in den Köpfen.

Fritsch: Barrierefreiheit betrifft nicht nur Menschen mit Behinderungen. Es betrifft Familien mit Kinderwagen, ältere Menschen, Reisende. Wenn man von Anfang an barrierefrei baut, profitieren alle. Leider wird das Thema oft als teuer dargestellt – das stimmt nicht. Barrierefreies Bauen ist kein Luxus, sondern ein Menschenrecht.

"Solange wir Inklusion nicht auf allen Ebenen leben, ist unsere Arbeit notwendig"
Georg Fritsch ist seit 2010 Vizepräsident des ÖZIV Vorarlberg. Stiplovsek

NEUE am Sonntag: Wie steht es um digitale Barrierefreiheit?

Stöckler: Das neue Barrierefreiheitsgesetz, das heuer in Kraft getreten ist, ist ein wichtiger Schritt. Aber zwischen Theorie und Praxis klafft noch eine große Lücke. Viele Websites sind nicht lesefreundlich gestaltet, Bankomaten zu hoch angebracht, Terminals schwer erreichbar. Es fehlt an Wissen, manchmal auch Willen. 

NEUE am Sonntag: Welche Themen beschäftigen Sie momentan?

Stöckler: Die persönliche Assistenz. Es gibt zwei Bereiche – die Assistenz am Arbeitsplatz und im Alltag. Die Abstimmung zwischen den Zuständigkeiten ist schwierig, die Organisation aufwendig, und viele Betroffene sind auf sich allein gestellt. Ich habe selbst erlebt, wie belastend es sein kann, wenn Assistenzkräfte kurzfristig ausfallen oder nicht zuverlässig sind. Wichtig wäre die Einrichtung eines „24/7-Dienstes“.

Fritsch: Ein weiteres großes Thema ist Arbeit. Menschen mit Behinderungen wollen arbeiten – sie brauchen nur die Chance dazu. Es gibt Förderungen, Ausgleichsfonds, Unterstützungsmodelle. Aber viele Unternehmen wissen gar nicht, dass es diese Möglichkeiten gibt. Und manche haben Vorbehalte. Dabei sind Menschen mit Behinderungen wertvolle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Loyalität und Stabilität in Betriebe bringen.

"Solange wir Inklusion nicht auf allen Ebenen leben, ist unsere Arbeit notwendig"
Unermüdlicher Einsatz steht bei den beiden ÖZIV-Repräsentanten an der Tagesordnung. Stiplovsek

NEUE am Sonntag: Wo sehen Sie die größten Baustellen in den kommenden Jahren?

Stöckler: Barrierefreies Bauen bleibt ein Dauerbrenner. Wir brauchen in Vorarlberg dringend zertifizierte Beraterinnen und Berater, die Bauprojekte begleiten und dafür sorgen, dass Gesetze eingehalten werden. Es passiert noch immer zu oft, dass Gebäude nicht barrierefrei geplant beziehungsweise ausgeführt werden, obwohl es gesetzlich vorgeschrieben ist. Wir fordern, dass Betroffene als Expertinnen und Experten in eigener Sache von Anfang an einbezogen werden.

NEUE am Sonntag: Was wünschen Sie sich persönlich für die Zukunft?

Stöckler: Ich wünsche mir, dass Barrierefreiheit endlich selbstverständlich wird. Dass die Sparpakete der Regierung nicht so umgesetzt werden wie derzeit prognostiziert und ich wünsche mir, dass Menschen mit Behinderungen nicht nur dabei sind, sondern wirklich dazugehören.

Fritsch: Und ich wünsche mir, dass wir weiter die Kraft haben, für andere einzustehen. Solange wir können, werden wir uns einsetzen. 

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ÖZIV Vorarlberg

Präsidentin Karin Stöckler und Vizepräsident Georg Fritsch stehen an der Spitze des Vorarlberger Verbandes. Gegründet 1975, setzt sich der ÖZIV für die Rechte und Interessen von Menschen mit Behinderungen ein. Schwerpunkte werden in den Punkten Beratung (Support), Hilfsmittelzentrale, Barrierefreiheit oder Sensibilisierung in Schulen und Betrieben. Infos: www.oeziv.org

(NEUE am Sonntag)