„Allein gegen die Mafia – das geht nicht”

In Batschuns referierte am Samstag der ehemalige Oberbürgermeister der sizilianischen Stadt Palermo über seinen Kampf gegen die Mafia. Der Zuschauerandrang war so groß, dass die Veranstaltung in einen zweiten Raum übertragen werden musste.
Von Kurt Bereuter
neue-redaktion@neue.at
Wenn der 78-jährige Professor Leoluca Orlando, er ist heute der älteste Europaparlamentarier, auf Deutsch referiert, ist sein Slang zwar nicht einfach zu verstehen, aber wenn er davon spricht, dass seine Frau eine Mutter ohne Mann ist, dass er nie zu einer Schulschlussveranstaltung in die Schule seiner Tochter konnte, im Freundeskreis diskutiert wird, wer wohl der nächste ist, der ermordet wird und der am Sonntag abseits seiner Familie in der Kirche sitzt, dann wird klar, was dieser Mann, der seit 1985 unter Polizeischutz lebt, in Kauf nehmen musste, bis heute. Es gebe kein Bild von ihm und seiner Frau oder mit seiner Tochter, die treffe er nur zuhause, sie lebten ein völlig privates Leben, niemals gemeinsam durch eine Straße schlendern oder einen Kaffee trinken, stattdessen Drohungen der Mafia und Bodyguards mit Waffen in gepanzerten Fahrzeugen als Begleiter.
Ein Wagen mit zwei Rädern
Der Kampf gegen die Mafia sei wie das Führen eines Wagens mit zwei Rädern. Das eine Rad, die Polizei und die Justiz, müsse sich in Einklang drehen mit der Bildung und der Kultur. Wenn sich nur ein Rad drehe, drehe sich der Wagen im Kreis. Die Mafia musste als kriminelle kulturelle Organisation bezeichnet werden und nur die Kultur und die Bildung, verbunden mit einer Zivilcourage der Vielen, kann gegen sie längerfristig Erfolg bringen. Der Ruf nach Polizei und Gefängnis würden nicht reichen. Das zweite Rad müsse sich mitdrehen und diesem galten seine Anstrengungen, der Kultur, der Bildung und der Zivilcourage. Denn die Mafia sei ein kulturell gewachsenes System und pervertiere die Werte einer Gesellschaft, den Wert der Ehre, der Familie, der Freundschaft. Dabei gebe es keine Identität des Blutes, sondern immer eine eigene, die geformt ist aus Erfahrungen, aus Liebe, aus der Familie. Schon sein Vater sei vom Bischof von Palermo gefragt worden, ob er nicht für das Parlament kandidieren wolle. Er habe abgelehnt, weil er mit den Stimmen des Bischofs auch die Stimmen der Mafia bekommen hätte. Der Sohn habe sich dann schon als Schüler und später als Student gegen die Mafia offen ausgesprochen und seine Verwandten und Freunde sagten ihm, er sei verrückt, er müsse in die Politik. Zu einer Zeit als die Mafia noch Palermo regierte, über den Bürgermeister, die Verwaltung bis zum Bischof, wie Orlando erklärte. Die Mafia brauche nette Menschen, in Anzug und Krawatte. Heute regiere die Mafia Palermo nicht mehr, aber es gebe sie immer noch. Sie habe nur ihre Strategie geändert, heute dominiere sie die Kriminalität.

„Meine Kraft durchzuhalten, stammt aus meiner Identität, die ich aus dem Kampf gegen die Mafia aufgebaut habe, ich kann nicht anders.“
Leoluca Orlando,
Europaparlamentarier und Ex-Bürgermeister von Palermo
Zivilcourage ist leicht gesagt
Ein Zuhörer fragte Orlando, wie man mit der Bedrohung und der Angst persönlich umgehe, wenn man als Normalbürger von mafiösen Strukturen als Zeuge in einem Mafia-Prozess bedroht sei, „Zivilcourage“ sei ein leicht gesagtes Word. Orlando erklärte, dass die Menschen auf der Straße zusammenstehen müssten, um zu zeigen, dass die Angst nicht gewinnt. Seine Kraft durchzuhalten, stamme aus seiner Identität, die er aus dem Kampf gegen die Mafia aufgebaut habe, er könne nicht anders und das sei seine Identität, etwas anderes könne er nicht machen. Die Frage, wie der Normalbürger, der nicht dermaßen in der Öffentlichkeit steht, damit umgehen kann, blieb aber so unbeantwortet. Und doch verwies Orlando auf Möglichkeiten einer Gesellschaft mit der Angst und der Bedrohung umzugehen. 1991 sei ein Unternehmer noch ermordet worden, als er sich weigerte Schutzgeld zu zahlen, heute gebe es die Initiative „Tschau Schutzgeld“, wo Geschäfte ein Schild in ihre Auslage hängen, dass sie kein Schuldgeld bezahlen würden und die Mafia mit ihren Geschäften nicht finanzierten. Das habe aber nur funktioniert, weil es viele taten und nicht ein einzelner. Auf von der Mafia entzogenen landwirtschaftlichen Flächen würden heute durch Genossenschaften Lebensmittel produziert und vertrieben, in einem Netzwerk, das sich aktiv gegen die organisierte Kriminalität wende unter dem Namen „liberaterra.it“.

„Die europäische Polizeibehörde Europol geht in ihrem aktuell veröffentlichten Bericht zur schweren und organisierten Kriminalität von einer erhöhten Bedrohung durch die im Wandel befindliche Organisierte Kriminalität aus.“
Philipp Stadler,
Landespolizeidirektion
Und Vorarlberg?
„Die Mafia ist eine Krake – weit über Italien hinaus, die auch in unserer Region agiert“, hieß es in der Einladung der drei Bildungshäuser Batschuns, St. Arbogast und Schloss Hofen in Zusammenarbeit mit der Initiative „ALTER-nativ“ zu dieser Veranstaltung. Auf Anfrage der NEUE bei der Landespolizeidirektion, bei der eine eigene Veranstaltung mit Orlando stattfand, erklärt der für die Organisierte Kriminalität zuständige Philipp Stadler schriftlich, dass in Vorarlberg keine konkreten Hinweise über fest etablierte Strukturen der italienischen Mafia vorliegen würden. „Im Zusammenhang mit der transnationalen organisierten Kriminalität muss dennoch davon ausgegangen werden, dass gerade im Bereich grenzüberschreitender Delikte, wie beispielsweise dem Rauschgifthandel oder der Geldwäscherei, Verbindungen krimineller Netzwerke nach Österreich und auch nach Vorarlberg bestehen können“, so Stadler. Und weiter: „Die europäische Polizeibehörde Europol geht in ihrem aktuell veröffentlichten Bericht zur schweren und organisierten Kriminalität von einer erhöhten Bedrohung durch die im Wandel befindliche Organisierte Kriminalität aus und betont deren destabilisierende Wirkung auf Volkswirtschaft, Rechtsstaat und Gesellschaft. Der Bericht betont zudem, dass kriminelle Netzwerke deren Erlöse aus illegalen Aktivitäten vermehrt in ein paralleles Finanzsystem investieren. Der digitale Deckmantel von Online-Plattformen und neuen Technologien wie der Blockchain hätten eine neue Ära der Geldwäsche anbrechen lassen. Zudem sei eine Infiltrierung legaler Unternehmensstrukturen durch die organisierte Kriminalität beobachtbar.“ Wesentlich sei, dass die Polizei auch künftig den sich wandelnden Anforderungen bei der Kriminalitätsbekämpfung gewachsen sein müsse und fortlaufend zielgerichtet Kompetenzen im Bereich der neuen Technologien aufbaue, um rasch und zielgerichtet gegenzusteuern.
Zweites Rad und Zivilcourage
Wer den Ausführungen Orlandos nun folgt, hat verstanden, dass funktionierende polizeiliche und justizielle Strukturen das eine „Rad des Karrens“ ausmachen und die Kultur und die Bildung das zweite. Dass gerade im Kulturbereich nie genug getan werden kann, versteht sich von selbst. Aber was bei Orlando auch ganz oben seiner Agenda steht, ist das Wort „Zivilcourage“, auch wenn es schnell und leicht ausgesprochen werden kann. Es zu leben, ist die andere Seite. Und wie ein Zuhörer als sich selbst bezeichneter Zeuge mit erregter Stimme zu verstehen gab, kann Zivilcourage Leben und Freiheit retten, aber ein gewohntes privates Leben auch massivst erschüttern. Orlando: „Es braucht ein verbreitetes Bewusstsein, dass die Demokratie jedem von uns gehört und, dass jeder von uns aufgerufen ist, sie zu verteidigen.“ So ist zu hoffen, dass sich beide Räder im Gleichklang drehen. Denn der Kampf gegen die Mafia, oder die organisierte Kriminalität insgesamt, ist nie ein Kampf „Allein gegen die Mafia“, sondern ein Kampf der Vielen in einer Gesellschaft, auch wenn es dazu Menschen wie Leoluca Orlando an ihrer Spitze braucht.