Inklusion braucht mehr als gute Absichten

Drei Vorarlberger mit Beeinträchtigungen berichten von alltäglichen Hürden, die ihnen die Teilhabe erschweren. Sie engagieren sich im Monitoring-Ausschuss für mehr echte Inklusion.
Wenn Melanie Wilhelmer über einen Platz in Dornbirn oder Bregenz geht, hält sie den Langstock heute sichtbar vor sich. Viele Jahre hat sie darauf verzichtet, weil sie ihre Sehbeeinträchtigung nicht öffentlich machen wollte. Doch das Verstecken war anstrengender als das Sichtbarsein. „Ich merke, dass für mich das Verstecken so anstrengend ist und mich so viel kostet“, sagt sie. Sichtbarkeit hilft ihr, weil sie Sicherheit schafft und Situationen entschleunigt. Und dennoch zeigt ihre Erfahrung, dass Sichtbarkeit allein nicht reicht: Sie wird häufig übersehen, sogar dort, wo man es nicht erwarten würde, auch in sozialen Einrichtungen oder im Kollegenkreis.

Barrieren sichtbar machen
Wilhelmer engagiert sich als Mitglied im Monitoring-Ausschuss Vorarlberg, jenem unabhängigen Gremium beim Landesvolksanwalt, in dem Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen, Experten aus Pädagogik, Menschenrechtsarbeit und Sozialberufen zusammenarbeiten. Ihre Aufgabe ist es, Barrieren sichtbar zu machen und Inklusion praktisch einzufordern. Die Stimmen, die hier zusammentreffen, verbinden persönliche Erfahrungen mit fundiertem Wissen über strukturelle Probleme. Diese Perspektive zieht sich wie ein roter Faden durch die Schilderungen der Beteiligten.
Missverständnisse
Robert Schütz, der ebenfalls im Monitoring-Ausschuss sitzt, lebt mit einer Hörbeeinträchtigung. Seine Erfahrungen zeigen ein alltägliches Muster: Menschen wissen oft nicht, wie sie kommunizieren sollen. Zu leise, zu laut, zu schnell, zu ungeduldig. Die Unsicherheit auf der einen Seite führt zu Missverständnissen auf der anderen. „Bitte schau mich an, rede deutlich und langsam“, sagt er oft. Doch das müsse er immer wiederholen. „Wir müssen immer lästig sein.“ Der Satz beschreibt die Realität vieler Menschen mit Hörbeeinträchtigungen: Ohne wiederholtes Einfordern geraten sie an den Rand von Gesprächen, Veranstaltungen oder Beratungen.

Kleine Hürden, große Wirkung
Dabei wären viele Probleme vermeidbar. Seit diesem Sommer gelten für digitale Angebote strengere Vorgaben zur Barrierefreiheit, doch die Praxis hinkt hinterher. Untertitel fehlen, Kontraste stimmen nicht, Navigationsstrukturen sind unklar. Schütz kennt die technische Seite: „Ich weiß nicht, ob wir bei der Umsetzung bereits im zweistelligen Prozentbereich angekommen sind“, sagt er. Dabei könnte Digitalisierung mit Schriftdolmetschen, besserer Audiounterstützung oder kontrastreichen Oberflächen ein Schlüssel zur Teilhabe sein. Stattdessen bleibt digitale Barrierefreiheit oft ein Randthema.
Das spiegelt sich im öffentlichen Raum, wo kleine Hürden große Wirkung haben. Leitlinien, die plötzlich unterbrochen sind, Stufen, die richtig markiert keine wären, Wege, die als barrierefrei beworben werden, in der Praxis aber Umwege für Rollstühle erzwingen. Genau diese Lücke zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit macht der Monitoring-Ausschuss sichtbar.
Verlässlichkeit und Respekt
Patrick Wintschnig, ebenfalls aktiv im Ausschuss, kennt die Herausforderungen persönlicher Assistenz. Eine Assistenz, die nicht auf seine Bedürfnisse eingeht, wird zur Bürde statt zur Hilfe. „Keine leeren Versprechen“, sagt er. Unterstützung müsse verlässlich und respektvoll sein, nicht übergriffig. Wintschnig geht offen auf Menschen zu, sagt, was er braucht, und erwartet, dass Hilfe zugesagt und eingehalten wird. Das ist keine Selbstverständlichkeit, sondern ein Recht, aber eines, das dennoch häufig missachtet wird.

Frühe Barrieren
Alle drei zeigen, wie früh Barrieren beginnen. In Schulen werden Kinder mit Beeinträchtigungen noch immer häufig getrennt, obwohl inklusive Modelle längst international erprobt sind. Norwegen oder Schweden zeigen, dass Kinder mit und ohne Beeinträchtigungen voneinander lernen, wenn sie gemeinsam aufwachsen. In Österreich entscheidet oft die Diagnose über die Schullaufbahn. Schütz nennt das „eine verschlafene Entwicklung“. Inklusive Bildung brauche Assistenz, barrierefreie Lehrmaterialien und eine Haltung, die Vielfalt nicht verwaltet, sondern lebt.
Wilhelmer erzählt von ihrer eigenen Schulzeit, die von Mobbing geprägt war, und davon, wie ein Jahr in einer Blindenschule ihr erstmals Luft verschaffte. Diese Erfahrungen zeigen, dass Schutzräume notwendig sein können, aber nicht die Antwort auf die Frage der Inklusion sind. Teilhabe entsteht dort, wo Vielfalt selbstverständlich wird: im Klassenzimmer, im Betrieb, am Amt oder in der Innenstadt.
Wege gestalten
Die praktischen Empfehlungen, die aus diesen Erfahrungen entstehen, sind klar: Gemeinden sollen Veranstaltungen mit Checklisten auf Barrierefreiheit prüfen. Wege, Beschilderung, akustische Informationen und Orientierungshilfen gehören zu dieser Grundausstattung. Bildungseinrichtungen müssen Assistenz und inklusive Lehrmittel bereitstellen. Digitale Angebote – von Gemeinde-Webseiten bis zu Schulplattformen – brauchen verlässliche Standards, damit Informationen für alle zugänglich sind. Und Medien sollen Menschen mit Behinderungen nicht als Ausnahme darstellen, sondern als Teil der Gesellschaft.

Miteinander leben
Am Ende steht ein Satz, der das Anliegen auf den Punkt bringt: Sichtbarkeit ist nur der Anfang. „Sichtbar werden heißt, den Weg so zu gestalten, dass Menschen auch mitgehen können.“ Die Mitglieder des Monitoring-Ausschusses bringen genau diese Perspektive ein. Sie sprechen nicht über abstrakte Barrieren, sondern über das Leben in einer Umgebung, die oft erst nachträglich an sie denkt. Es geht nicht um Symbole, sondern um Strukturen. Es geht nicht um Aufmerksamkeit, sondern um Zugänglichkeit. Es geht um ein Leben miteinander, statt nebeneinander. Ein Leben, an dem teilzuhaben allen in Vorarlberg ermöglicht wird.
Monitoring-Ausschuss Vorarlberg
Der unabhängige Monitoring-Ausschuss ist das Kontrollgremium des Landes, das die Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen überwacht. Er ist organisatorisch beim Landesvolksanwalt angesiedelt, arbeitet aber weisungsfrei.
Dem Ausschuss gehören vierzehn Mitglieder an: jeweils zwei Personen pro Fachbereich. Ihre Expertise kommt aus eigener Betroffenheit (Hören, Sehen, Mobilität), aus Pädagogik, Sozialarbeit, Menschenrechtsarbeit und aus der juristischen Praxis.
Der Monitoring-Ausschuss
– prüft Barrieren im Alltag und im digitalen Raum
– berät Gemeinden, Schulen und Behörden
– gibt Stellungnahmen zu Gesetzen und Projekten
– dokumentiert und meldet Missstände
– entwickelt Vorschläge für Verbesserungen
Weitere Infos:
www.landesvolksanwalt.at