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Geschichte zum Advent: Die Ehrenfrau

19.12.2020 • 20:18 Uhr
<span class="copyright">Klaus Hartinger</span>
Klaus Hartinger

Autorin Daniela Egger hat persönliche Adventgeschichte verfasst.

Das gehört irgendwie dazu,“ sagt Fabian und schüttet den nächsten Sack auf den Tisch. Vor ihm liegen Babykleider, ein paar Schuhe, deren Größe er nicht mehr entziffern kann, weil das Etikett schon abgeschabt ist und zwei Winterjacken für 10 – 12-jährige. Er legt sie in die entsprechenden Schachteln für „Kinderschuhe“, „Babykleidung“ und „Winterjacken Kinder“, und markiert auf den Strichlisten, was er hineingelegt hat. Emma arbeitet wesentlich schneller, sie hat in derselben Zeit drei solcher Säcke geöffnet und sortiert.

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„Meine Freundin“ rattert es in seinen Gedanken, und je mehr es rattert, desto langsamer werden seine Handgriffe. Er hat sie gefragt, vor drei Wochen, und sie hat „Ja“ gesagt. Über WhatsApp. Seine Mutter, die am anderen Ende des Raumes eine neue Lieferung entgegennimmt, hat sich darüber lustig gemacht, dass man solche Fragen heute über WhatsApp stellt.

Aber sie hat keine Ahnung, als sie jung war, gab es überhaupt kein WhatsApp. Und außerdem – was sollte er denn sonst tun, bis vor einer Woche war Lockdown, wie das neuerdings heißt, und man brauchte einen wirklich guten Grund, um jemanden aus einem anderen Haushalt zu treffen. Auch hier im Raum tragen alle Masken und halten Abstand, die Arbeitsstationen befinden sich weit auseinander, das Lager ist riesig. Und voller Schachteln und Säcken mit Kleidern, Wolldecken, Zelten und anderen Dingen. Sie hat Rastazöpfe, die ihr manchmal vor das Gesicht fallen, und dann muss er ihr zuschauen, wie sie die fetten Dinger nach hinten wirft, weil er das umwerfend findet. Dass sie „Ja“ gesagt hat, kann er noch immer nicht fassen. „Sie ist meine Freundin,“ sagt er leise vor sich hin und dieses kleine Wort „meine“ bekommt jedes Mal eine neue Dimension. „Schau mal, das wäre ein cooles Hemd für dich,“ lacht Emma und wirft ihm etwas über den Tisch. „Was meinst du mit: Das gehört irgendwie dazu?“

Zur Person

Daniela Egger (Jg. 1967) lebt als freie Autorin Bregenz. Sie schreibt Drehbücher, Theaterstücke, Hörspiele und Erzählungen. Außerdem ist sie Projektmanagerin bei der Aktion Demenz. Egger absolvierte die  Modeschule Hetzendorf in Wien und ist Stipendiatin der Drehbuchwerkstatt München an der dortigen Hochschule für Fernsehen und Film. Sie flog fünf Jahre als Flugbegleiterin auf dem Privatflugzeug eines arabischen Scheichs um die Welt und verarbeitete ihre dortigen Erlebnisse in dem Erzählband „Der Steward hätte die Tür nicht öffnen dürfen“. Bis 2017 war Egger Mitherausgeberin der österreichischen Literaturzeitschrift miromente.

Er hält das Hemd vor sein Shirt und schüttelt den Kopf. „Ich meine, zu diesem komischen Jahr 2020. Es wird ein anderes Weihnachten, und das ist irgendwie gut.“
„Ich war letzten Sommer in Griechenland. Auf Samos. Dort ist auch ein Lager, aber das wusste ich nicht“, sagt sie, setzt sich auf den Tisch und holt ihr Handy raus. Sie sucht, findet und zeigt ihm den Bildschirm. Er sieht Strandbilder und blauen Himmel, eine glücklich lachende Emma mit nassen Strähnen über dem Gesicht, noch ohne Rasta, Emma im Bikini, ihr Vater mit einem Sonnenhut. Sie seufzt.

„Vielleicht wird blauer Himmel und Meeresrauschen irgendwann zur Tortur, weil du dort nicht mehr wegkommst.“
„Es ist ehrenlos“, sagt er. „Die Menschen in Griechenland sind so gastfreundlich, die helfen und wollen, dass es dir gut geht, wenn du zu ihnen kommst.“
„Ehrenlos?“
„Ja, dass wir Menschen in Not nicht mehr helfen und ihnen keinen Platz anbieten“, sagt Fabian. „Dass wir die ganze Last den Leuten auf einer kleinen Insel überlassen.“
„Warum gefällt dir das Hemd nicht?“ Emma hält es noch einmal in die Höhe.
Er schüttelt sich: „Das ist ja schon benutzt.“

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Der Blick, mit dem sie ihn jetzt ansieht, lässt ihn erschrecken. Auch ihre Stimme klingt anders, als sie sagt: „Ach so. Verstehe.“
Fabian weiß nicht, was er sagen soll, er will sie zurückhalten, aber sie ist schon wieder an ihrer Station und kippt den nächsten Sack auf ihren Teil des langen Tisches.

„Ich habe den Schrank voller Kleider, ich brauche dieses Hemd nicht. Es … es gefällt mir auch nicht.“

Emma nickt und lächelt ihn schief an. Sie ist 14 Jahre alt, und deshalb weiß sie sehr genau, was sie denkt. Er ist erst dreizehneinhalb, und er fürchtet sich vor ihrem Urteil, das jetzt unausgesprochen auf dem Tisch liegt. Er packt wieder zu, begutachtet Kleider und sortiert sie mit doppelter Geschwindigkeit. Eigentlich möchte er nach Hause vor seine Playstation, er hat keine Lust mehr, und die fremden Kleider ekeln ihn wirklich. Er wollte sie beeindrucken, als er ihr von der Sammelaktion erzählte und von seinem Engagement, das er auch leicht übertrieben hat. Es hat funktioniert, sie war begeistert und sagte sofort ihre Unterstützung zu. Jetzt sitzt er in der Falle. Was würde sie wohl denken, wenn er jetzt kneifen würde? Und weil er sich seine Ungeduld und auch seinen Ekel vor den muffigen Säcken eingesteht, bekommt jetzt auch das Wort „ehrenlos“ eine neue Bedeutung, eine, die es bisher für ihn nicht hatte. Er zieht ein Shirt aus dem Haufen, riecht daran (es riecht frisch gewaschen) und zieht es dann über den Kopf.

Emma sieht ihn spöttisch an und schüttelt den Kopf. „Ist zu klein, und außerdem nicht für dich bestimmt. Leg es in die Schachtel, dann bekommen es Leute, die es wirklich brauchen.“

„Meine Mutter sagt, man sollte ein paar Kreuzfahrtschiffe nehmen, um die Menschen aus dem Lager sicher unterzubringen. Zumindest für den Winter und solange das Virus alle gefährdet. Die Schiffe dürfen nicht fahren und liegen sinnlos in den Häfen herum.“

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Emma hört auf mit dem Sortieren und setzt sich wieder zu ihm auf den Tisch. Er ist erleichtert, sein breites Lächeln kann er gar nicht unterdrücken. Jetzt hat er wieder Lust, weiterzuarbeiten.

„Ich finde, du hast recht. Letztes Jahr um diese Zeit war ich ziemlich oft im Messepark und habe Geschenke gekauft oder mir Sachen ausgesucht für meinen Wunschzettel. Dieses Jahr ist es irgendwie besser. Die Geschäfte haben gerade erst wieder aufgemacht, und ich habe trotzdem keine Lust zum Shoppen. Eigentlich brauche ich auch nichts. Wir haben echt alles.“

Klaus Hartinger
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Fabian sieht ein großes Kreuzfahrtschiff vor sich, obwohl er noch nie auf einem war. Er kennt Bilder von den Schiffen, mit Kegelbahn und Kino, mit Pools und Restaurants und Clubs zum Tanzen. Dort könnte man sogar Unterricht abhalten, meinte seine Mutter.
Er stellt sich vor, wie er mit Emma ein Schiff kapert und das riesige Ding aus dem Hafen manövriert. Wie das viel zu große Schiff vor dem Lager in Kara Tepe hält und sie eine Brücke zum Strand schieben, damit die Menschen einsteigen können. Er weiß, dass das alles schon rein technisch nicht möglich wäre, aber ihm gefällt die Vorstellung einer neuen Version von Piraterie und von sich als Kapitän. Gemeinsam mit Emma, die eine wunderschöne Piratenkapitänin wäre. Er wäre ein Ehrenmann und sie eine Ehrenfrau, obwohl sie außerhalb des Gesetzes stünden – aber Gesetze sind manchmal eben ehrenlos. Das hat er gelernt in diesem Jahr 2020. Und er hat auch gelernt, dass er sich verändert, seit Emma in seinem Leben ist, und dass mitten im Stillstand einer Pandemie sein Leben schnell und aufregend sein kann – wegen einer einzigen Frage.

„Was träumst du denn? Mach weiter, ich will hier fertig werden“, sagt die Piratenkapitänin vor ihm und schubst ihn mit einem Winterstiefel, der in ihrer Hand baumelt. Seine Mutter lädt neue Säcke auf den Berg der gespendeten Waren und lacht. „Bei dem Tempo kann der Lkw erst nach Weihnachten losfahren.“„Ich wünsche mir trotzdem eine neue Tastatur, weil meine immer bugt, wenn ich spiele,“ sagt er leise.

Seine Mutter drückt ihm einen Kuss in den Nacken, den er nicht kommen sah. Wie peinlich. Emma grinst, und er versenkt seinen roten Kopf geschäftig in eine der Schachteln. Das Glück steckt manchmal in einem muffigen Kleiderhaufen, sogar noch bevor dieser an seinem Bestimmungsort ankommt.

Flüchtlingshilfe

In Zusammenarbeit mit Doro Blancke und Fayad Mulla, die beide derzeit in Lesbos im Flüchtlingscamp sind, organisiert „Der Wandel“ eine Lieferung von Hilfsgütern. Die Sachspenden  sind bereits unterwegs nach Lesbos, aber da Lebensmittel und Hygieneartikel vor Ort eingekauft werden müssen, sind auch Geldspenden herzlich willkommen. Bitte auf Wandel AT33 1200 0100 0041 1198 einzahlen. 

Weitere Infos: www.derwandel.at