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Großdeutscher und Antisemit

09.05.2021 • 14:00 Uhr
Foto eines Porträts Hans Nägeles von Eugen Jussel um 1953.    <span class="copyright">Landesarchiv</span>
Foto eines Porträts Hans Nägeles von Eugen Jussel um 1953. Landesarchiv

Severin Holzknecht hat ein Buch über Hans Nägele (1884-1973) geschrieben.

“Wie lange lässt sich Vergangenheit bewältigen, indem man sie vergessen macht?“ Diesen Satz hat der Sozialwissenschaftler Kurt Greussing in einem Beitrag über die mögliche Gründung eines Jüdischen Museums in der NEUE Vorarlberger Tageszeitung vom 21. Februar 1973 geschrieben. Hans Nägele hat ihn mit einem roten Stift markiert.

Der Historiker Severin Holzknecht hat den Satz als Titel für sein neues Buch über den Vorarlberger Journalisten und Heimatkundler Nägele (1884–1973) verwendet. Nicht ohne Grund. Eines der zentralen Ziele des heimatkundlichen Schaffens von Nägele nach 1945 sei „die Verharmlosung der nationalsozialistischen Diktatur und die Beschönigung der Rolle der Vorarlberger Nationalsozialisten“ gewesen, schreibt Holzknecht.

Russische Jahre

Hans Nägele wurde am 26. April 1884 als Sohn eines Stickers in einfachen Verhältnissen in Götzis geboren. Er hatte drei Brüder, von denen zwei früh starben. Nach der Realschule in Dornbirn, wo er erstmals mit deutschnationalem und antiklerikalem Gedankengut in Kontakt kam, studierte er in Wien und später in Graz Chemie. Früh engagierte er sich auch in verschiedenen deutschnationalen Vereinen und veröffentlichte schon zu Studienzeiten Artikel in Zeitungen und Zeitschriften.

Nach seiner Promotion fand er 1913 eine Stelle in der chemischen Industrie in Slawjansk in der heutigen Ukraine. Nach Kriegsausbruch wurde er festgenommen, später in den Ural deportiert und inhaftiert. Nach Götzis kam er erst am 16. September 1918 wieder zurück.

Hauptschriftleiter beim “Tagblatt”

1919 wurde Nägele Hauptschriftleiter (Chefredakteur) des „Vorarlberger Tagblatts“, des Organs der Deutschfreisinnigen, wo er hauptsächlich für den unpolitischen Teil zuständig war. 1920 heiratete er die aus Südtirol stammende Margarethe „Grete“ Kammerlander, mit der er eine Tochter hatte, die mit 22 Jahren bei einem Skiunfall starb.

Vier Charakterzüge machten den Götzner aus, schreibt Holzknecht: der streitbare Alemanne, der glühende Großdeutsche, der Antisemit und Förderer völkischer Literatur. Wesensmerkmale, die in den folgenden Jahren stark zutage traten und denen im Buch minutiös und anschaulich nachgespürt wird.

Folgerichtig war Nägele 1919 gegen einen Anschluss an die Schweiz und später ein Gegner des austrofaschistischen Regimes, schwebte ihm doch „Vorarlberg als Teil eines Großdeutschlands auf völkischer Basis“ vor. Probleme hatte der Götzner, der von Holzknecht als stur, stets unzufrieden und streitbar beschrieben wird, auch immer wieder mit seinem Geschäftsführer und Mitarbeitern.

Nägeles ­Elternhaus in Götzis.<span class="copyright"> Landesarchiv</span>
Nägeles ­Elternhaus in Götzis. Landesarchiv

Während des Austrofaschismus wurde das „Tagblatt“ zwar nicht verboten, aber ständig kontrolliert, zensiert und teilweise beschlagnahmt. Dennoch betrieb es weiterhin nationalsozialistische Propaganda. Nach dem „Anschluss“ wurde Vorarlberg Teil des Reichsgaus Tirol-Vorarlberg. Nägele geriet dabei in ständigen Konflikt mit der Gauleitung, die ihn und die Redaktion anwies, ihre „Schwabentümelei“ einzustellen. Eine Auseinandersetzung, die er nach 1945 nutzte, um sich als „überzeugten Vorarlberger Föderalisten zu präsentieren“. Schwierigkeiten hatte er aber nicht mit dem Nationalsozialismus, sondern nur mit der Unterordnung Vorarlbergs unter Tirol.

NSDAP-Parteizeitung

Nach dem Anschluss wurde das „Tagblatt“ offiziell die Parteizeitung der NSDAP in Vorarlberg. Ein Aufpasser wurde geschickt und der Eigentümer zum Verkauf an eine Gesellschaft der NSDAP genötigt. Im Herbst 1944 reichte es Gauleiter Franz Hofer und er wollte Nägele loswerden. Der kam seiner Zwangspensionierung mit der Bitte um Versetzung in den Ruhestand zuvor.
Am 10. Mai wurde er verhaftet und zunächst in das Bezirksgefängnis in Bregenz gebracht. Er kam dann in das Anhaltelager Lochau, wo er die folgenden 18 Monate verbrachte. Am 19. November 1946 wurde er entlassen.

Das Buch

Severin Holzknecht: „Hans Nägele. 1884–1973. Wie lange lässt sich Vergangenheit bewältigen, indem man sie vergessen macht?“ Universitätsverlag Wagner Innsbruck 2021, 446 Seiten, kartoniert, 39.90 Euro.

Nach seiner Entlassung war Nägele vor allem als Autor heimatkundlicher Bücher und Artikel tätig, „wobei deutlich wird, dass 1945 für ihn keine ‚Stunde Null‘ war“. Der Verfolgung der „Ehemaligen“ sei er stets mit Unverständnis begegnet, schreibt Holzknecht. Eine enge Beziehung hielt Nägele zu Vorarlberger Industriellen, vor allem aus der Textilindustrie, zu deren „Haus- und Hofschreiber“ er wurde. Diese Teste hatten aber nichts mit wissenschaftlichen Arbeiten zu tun, sondern waren vielmehr Werbung für das jeweilige Unternehmen.

Er publizierte aber auch in sozialdemokratischen und konservativen Zeitungen und auch in den „Vorarlberger Nachrichten“ – trotz zahlreicher vorangegangener Konfikte mit deren Eigentümer Eugen Russ. Auch im ORF gab es Beiträge von und über Nägele. Eine Freundschaft unterhielt er auch mit der Bregenzerwälder Schriftstellerin Natalie Beer, die ebenso zeitlebens überzeugte Nationalsozialistin war. 1968 erhielt Nägele das silberne Ehrenzeichen des Landes – mit einer Vielzahl an Gratulanten. Am 16. Mai 1973 starb er in seinem Haus in Bregenz. Einen kritischen Nachruf gab es nicht.

Die Ehrenzeichen­verleihung im Jahr 1968.   <span class="copyright">Stadtarchiv Bregenz/Spang</span>
Die Ehrenzeichen­verleihung im Jahr 1968. Stadtarchiv Bregenz/Spang

Severin Holzknecht zeichnet den Lebensweg und die zahlreichen Verstrickungen des Götzners detailliert, spannend und aufschlussreich nach. Trotz zahlreicher Zitate liest sich das Buch flüssig und fesselnd. Der Historiker holt auch immer wieder aus, um Hintergründe zu schildern, die insgesamt ein plastisches Bild ergeben.

„Hans Nägele – Wie lange lässt sich Vergangenheit bewältigen, indem man sie vergessen macht?“ ist ein informativer Beitrag zur Vorarlberger Zeitgeschichte, der anschaulich einen Mann porträtiert, der nicht nur Mitläufer, sondern Überzeugungstäter war – und das ein Leben lang blieb.