Eine Raumvermessung der Camera obscura

Unter dem Titel „Shifting Figures“ wurde im Lustenauer Kunstraum Dock 20 eine Ausstellung vom Filmemacher Philipp Fleischmann eröffnet.
Im Rattern des Projektors läuft der Film im Loop und wird auf der Wand sichtbar: Leere Räume, das Sonnenlicht strahlt durchs Fenster, Jalousien, Gänge und die Umgebung im Gebäude. Was wie eine Filmszene wirkt, die den Betrachter still und kontextlos durch den Raum führt, ist tatsächlich nur ein und immer der gleiche Moment, der sich in den verschiedenen Kameraperspektiven aufeinanderfolgend abspult – quasi eine fortlaufende Bestandsaufnahme – und das Ergebnis einer „filmischen Raumvermessung“, die der Künstler Philipp Fleischmann auf Einladung der Sao Paulo Biennale im Jahr 2021 durchführte.
Wie eine Skulptur
Die Kamera dafür hat er selbst konstruiert, sie ist mehrere Meter lang und zieht sich im rechten Winkel zum Fenster quer durch den Raum des von Oscar Niemeyer entworfenen Pavillions Ciccillo Matarazzo oder wird vertikal vom Boden zur Decke und auch auf dem Dach platziert. In einer langen Schiene liegt der Film unter dem Deckel. Es gibt „Pinholes“ aber keine Linse und wenn die Aufnahme erfolgt, wird der ganze Film auf einmal belichtet.
Der entscheidende Punkt der „Camerae obscurae“ sei, dass es „kein Vor- und Hinter-der-Kamera im klassischen Sinn gibt“, sagt Philipp Fleischmann beim Interview im Ausstellungsraum des Dock 20. Die Kamera nimmt auf einmal den ganzen Raum ins Bild. Als Filmemacher gibt Fleischmann zwar eine Richtung vor, was dann tatsächlich im Film abgebildet wird, kann er nicht kontrollieren. Für ihn gehe es auch gar nicht darum, „was die Kamera sieht“, viel wichtiger sei es, sie so hinzulegen, „wie eine Skulptur“. Denn in seiner am Wochenende gestarteten Ausstellung „Shifting Figures“ (deutsch: wechselnde Erscheinungen) wird nicht der Film als abgespieltes Narrativ, sondern das Medium Film als Akteur und Protagonist gedacht und präsentiert. Dabei gewährt der Künstler dem Medium, über sich selbst ins Erzählen zu kommen.

„Im klassischen Film ist der Filmstreifen ja in der Kabine hinten und hat halt die Bilder, aber er ist kein Akteur, man sieht ihn nicht im Kino“, sagt Fleischmann. Auch wie die umgebende Wirklichkeit filmisch abgebildet wird, sei schon durch die Funktionsweise industriell gefertigter Filmkameras festgelegt. Fleischmann stelle sich ganz bewusst gegen die weitverbreitete Denkweise, die Kamera als Abbildemedium zu nutzten und habe in seiner Kunst nach einem Weg gesucht, den Film selbst als Kunstwerk und sichtbaren Bestandteil in die Arbeiten zu integrieren, um dem Publikum damit eine andere Perspektive zu ermöglichen: „Weil ich mir dadurch erhoff, dass man einerseits Dinge nachvollziehen kann, aber eben auch nachvollziehen kann, dass man Dinge anders machen kann.“
Filmstreifen als Maßband
Dieses „mehr“ an Gestaltungsmöglichkeiten hat er in der Camera obscura gefunden, die er an spezifischen Orten als „Vermessungs- und Blickmedium“ nutzt und deren individuelle Form er an die jeweiligen Räumlichkeiten anpasst. „Wenn die Kamera diesen Raum ausmessen würde, dann wäre diese Kamera 29 Meter lang.“ Die von ihm gebauten Kameras würden anders funktionieren, weil sie „nicht klassisch 24 Bilder pro Sekunde sind“ und damit auch „keine klare Repräsentation“ erzeugen, beschreibt Fleischmann. „Bei mir ist der Filmstreifen bei vielen Arbeiten wie eine Art Maßband gewesen, eine Art Vermessung von Architektur und Institutionen. Und wenn man den Filmstreifen wie ein Maßband denkt, dann gibt es nicht dieses eine Kameraauge, das schaut, sondern potenziell viele, weil das ja quasi physisch im Raum präsent ist.“

Wie Fleischmann das Medium Film selbst als Skulptur inszeniert, zeigt sich noch deutlicher im zweiten Raum, in dem sechs auf dem Boden verteilte Diaprojektoren inklusive kleiner rechteckiger Leinwände als „Raumcollage“ funktionieren. „Es ist eine Farbfläche, die es sechsmal gibt“, beschreibt der Künstler die als Abstraktion projizierten bearbeiteten Filmstreifen. Gezeigt wird die gleiche Geste, aber in unterschiedlichen Richtungen, Höhen und Farben. „Wenn man sie dann so skulptural aufstellt, interessiert mich eben, dass sie eigentlich ein kleines Kollektiv sind“, beschreibt er das Zusammenspiel der Leinwände, in der er mittels filmischer Abstraktion auch das Thema Queerness verarbeitet, indem er versuche, mit den Materialien Momente zu generieren, in denen Empfindungen nach außen getragen werden.
Zur Person
Philipp Fleischmann (geboren 1985) lebt und arbeitet als Künstler und Filmemacher in Wien. Er studierte an der Akademie der bildenden Künste Wien bei Dorit Margreiter sowie an der Schule für künstlerische Fotografie und an der Schule für unabhängigen Film bei Friedl Kubelka vom Gröller. Seit 2014 leitet er die Schule Friedl Kubelka für unabhängigen Film in Wien.