Ich seh nix: Die Qual des Kleingedruckten

Heidi Salmhofer mit ihrer Kolumne in der NEUE am Sonntag.
Meine Oma hatte für Gebrauchsanweisungen, Beipackzettel und Lebensmittelbeschriftungen immer eine Lupe zur Hand. Nicht so eine kleine, monokelähnliche, hosentaschentaugliche kleine Lupe, sondern jene, die Sherlock Holmes zum Betrachten von in Mordfälle verwickelten Fingerabdrücken verwendete. Bei Bedarf wurde diese Lupe, halb so groß wie Omas Gesicht, irgendwo hervorgezaubert. Manchmal hab ich sie mir ausgeborgt, oder besser gesagt kurz stibitzt, um im Garten Marienkäfer zu betrachten, die Ameisen zu studieren oder einfach die feinen Linien auf meinen Händen anzusehen.
Die Lupe war kein Behelf, sondern ein Spielzeug für eine Entdeckungsreise in die kleine Welt voller Rätsel. Fern war mir die Vorstellung, dass ich irgendwann einmal in ein Alter kommen würde, in dem Lichteinfall, Schrift-Anatomie und Tagesverfassung eine essenzielle Rolle spielen, um Informationen auf einem Blatt Papier oder anderen verschriftlichten Aufdrucken lesen zu können. Ich verzweifle!
Wenn ich im Drogeriemarkt ein Shampoo schnappe, um – noch in der Vorstellung mit jungspundigen Augen ausgestattet zu sein – souverän die Inhaltsstoffe lesen zu wollen, stelle ich schnell fest: Mit „souverän“ wird das wohl nix. Alles, was ich sehe, ist ein bedeutungsloser grauer Fleck. Also behelfe ich mir mit der Lupe des 21. Jahrhunderts, zücke mein Handy, mache ein Foto und zoome dann so lange hinein, bis die erforderliche Schriftgröße für mein müdes Auge erreicht ist. Meine Fotogalerie ist voll von getexteten Hilfestellungen, die in Minimalstgröße unter die Leute gespült werden. Wenn ich einmal ein Fotoalbum über mein Telefon generieren lasse, wird man feststellen, dass mein Leben ab Ende 40 zunehmend von Kleingedrucktem beherrscht wird (ja, ja, ich sollte einmal aufräumen, in meinen Daten, ich weiß).
Heute habe ich eine Schachtel für Smart-Glühbirnen geöffnet, deren Gebrauchsanweisung so klein war (18 Seiten, quadratische vier mal vier Zentimeter, befüllt mit irgendwas, das nach Schriftzug ausgesehen hat), dass selbst mein Telefon schlichtweg aufgab. Ich glaube, ab einem gewissen Alter musst du einfach damit leben, dass man am Verkaufsmarkt davon ausgeht, ab 50 grundsätzlich alles zu wissen und nichts mehr nachlesen zu müssen, weil man genug Erfahrungen gesammelt, schwedische Billigmöbel zusammengebaut, Kopfwehtabletten geschluckt und Dosensuppe gegessen hat. Da möchte ich aufs Gröbste Einspruch erheben, und das in der Schriftgröße Arial 12,5. Danke für die Aufmerksamkeit.
Heidi Salmhofer ist freiberufliche Theatermacherin und Journalistin. Sie lebt als alleinerziehende Mutter mit ihren Töchtern in Hohenems.