Glory Night mit Bruce Springsteen in Wien

Bruce Springsteen hat am Dienstag ein fast dreistündiges Konzert hingelegt und die Masse begeistert.
Ja, es war fulminant, um dieses abgegriffene Wort zu bemühen. Ja, die rund 60.000 Menschen im natürlich restlos ausverkauften Wiener Happel-Stadion waren restlos begeistert. Ja, das Konzert hat wieder knapp drei Stunden gedauert und er hat schweißtreibende Schwerarbeit geleistet. Aber all das reicht nicht aus, um diesen Abend zu beschreiben. Denn was zwischen Bruce Springsteen und seinem Publikum passiert, beruht auf einem offenbar biochemischen Vorgang, dessen Formel nicht wirklich bekannt ist. Man kann diese Berührung vielleicht unzulänglich mit Magie beschreiben.
Um 19.05 Uhr hat es begonnen, dieses Konzert der Superlative, das trotz Menschenmasse und Riesenbühne nicht nach den kalten, technoiden Regeln von Stadionkonzerten funktionierte. Von Beginn an war zwischen Springsteen und Publikum eine fast greifbare Nähe spürbar. Mit “No Surrender” hat der “Boss”, der diesen Ehrentitel gar nicht mag, das Set begonnen, “Ghosts” und “Prove It All Night” folgten. Die legendäre E-Street-Band ist ein wesentlicher und wichtiger Bestandteil der Springsteen’schen Sound-Welt. Die alten Weggefährten Steven Van Zandt (“Little Steven”), Nils Lofgren, Max Weinberg und Co wuchten einen kompakten, aber nie abgebrühten Klangkörper auf die Bühne; der 2011 verstorbene Saxofonist Clarence Clemons, eine mächtige Säule der Band, wird von dessen Neffen Jake würdig vertreten. Springsteen selbst nagelt seine Riffs wie gewohnt durch eine Telecaster.
Die erste Rockband
Was in den nächsten knapp drei Stunden folgt, ist kein routiniertes Zünden eines Hitfeuerwerks, sondern ein Blättern im Great American Songbook, in das sich der 73jährige Springsteen längst eingetragen hat. Sein erstes Album, “Greetings from Asbury Park, N.J.” erschien übrigens vor genau 50 Jahren. “Darlington County”, “The River”, “Backstreets”, “Because The Night”, “Badlands”, “Thunder Road”, “Wrecking Ball”, eine sehr bluesig-jazzelnde Version von “Kitty’s Back” folgen Schlag auf Schlag, aber ohne grobe Hemdsärmeligkeit. Optisch ist der Superstar aus New Jersey gut gealtert, sein Gang ist etwas steif und langsamer geworden, aber er strotzt noch immer vor Kraft und Energie.
Die Zwischenansagen halten sich in Grenzen. Ab und zu drückt Springsteen jemandem aus dem Publikum eine Mundharmonika in die Hand. Das früher gerne praktizierte Einbauen von Wunschsongs von Fans fehlt. Aber wer so in Kontakt mit den Menschen steht, muss sich ihnen nicht ständig an den Hals werfen. Eine längere Ansage, ja eine Rock-Initiationsstory, liefert Springsteen, bevor er den Gänsehaut-Song “Last Man Standing” anstimmt. Er erzählt davon, wie er im Alter von 15 Jahren Gitarre in seiner ersten Rockband, den “Castiles”, spielte. “Und jetzt sind alle, die in dieser Band gespielt haben, tot – und ich bin übriggeblieben.”
Nach rund zwei Stunden ist der reguläre Teil beendet und Springsteen sprintet mit seinen Band-Freunden an der Seite – zwischendurch wächst die Truppe mit Bläsern und Streichern auf mehr als 15 Frau/Mann an – in den sagenhaften Zugabenblock. “Born To Run”, “Bobby Jean”, “Glory Days”, “Dancing In The Dark”, “Tenth Avenue Freeze-Out” und als ultimativ berührenden Schlussakkord schlicht und leise “I’ll See You In My Dreams” solo an der Akustikgitarre. Der Tod ist nicht das Ende, in den Träumen gibt es ein Wiedersehen. Da mag vielen im Publikum durch den Kopf gehen, wie oft sie Springsteen – wenn er im Zehn-Jahres-Rhythmus auf Tour geht – wohl noch live erleben werden.
Zwischen Weite und Hometown
“Born To Run”, ein Signature-Song von Springsteen und nicht von ungefähr auch Titel seiner Autobiografie, beinhaltet viel von seiner DNA als Texter. Das Pendeln zwischen der Weite des Horizonts und der Wärme der “Small Town”. Geboren, um wegzulaufen. Aber auch, um wieder heimzukehren. Ein lebenslanger Home Run gleichsam. Wohl etwas uramerikanisches. Apropos: Seinen Mega-Hit “Born In The USA” hat Springsteen nicht im Programm – vielleicht auch ein Statement.
Es war ein Konzert ohne große Überraschungen – die müssen auch nicht sein bei diesem Künstler. Und nicht jeder Song kam perfekt über die Rampe – gerade das machte es perfekt. Es war ein Konzert, in dem Springsteen zeigte, in wie vielen Milieus seine Songs angesiedelt sind. Es war der Auftritt eines kritischen Patrioten, der das Land der unbegrenzten Möglichkeiten und Unmöglichkeiten beschreibt und auch die Hinterhöfe ausleuchtet. Es war ein Wiedersehen mit einem Musiker, der Hau-drauf-Hymnen ebenso abliefert wie sehnsüchtige Road-Songs und melancholische Lebens- und Liebeslieder. Die Größe Springsteens steht außer Zweifel, seine Breite wird von Kritikern oft unterschätzt. Und seine Tiefe.
Ganz am Ende greift sich Bruce Springsteen die Gitarre, winkt noch einmal ins Publikum, lächelt und geht ins Dunkel der Bühne ab. Im Alter von 15 Jahren ist er zu diesem Abenteuer aufgebrochen, jetzt ist er ein angegrauter Mann mit feiner Faltenlandkarte im Gesicht, der mehr Erinnerungen und Erfahrungen hinter sich hat als Zeit vor sich. Diese weise ertragene Wehmut macht den Charme des “Late Bruce” aus, wenngleich das tiefe Empfinden von Vergänglichkeit bereits im jungen Springsteen steckte und sich wie ein zartgrau eingefärbtes Narrativ durch sein Schaffen zieht.
Springsteen kommt aus dem analogen Zeitalter, seine Songs sind Briefe, handgeschrieben mit Tinte und Blut. Vielleicht lässt sich die so große, liebevolle Wertschätzung für diesen Künstler damit erklären, dass er eine Lebensgeschichte zu erzählen hat, nicht nur eine Instagram-Story.