Kultur

Ewige Rockikone: Mick Jagger ist 80

26.07.2023 • 14:12 Uhr
Wird am 26. Juli 80 Jahre alt: Mick Jagger – neben ihm Keith Richards
Wird am 26. Juli 80 Jahre alt: Mick Jagger – neben ihm Keith Richards (c) APA/HANS KLAUS TECHT

Über Bahnsteige, ungebrochenes Bühnencharisma, Herz und Hirn und warum die Rolling Stones noch immer funktionieren.

Bahnhöfe und Bahnsteige. Gern Ausgangspunkte für Narrative der Populärkultur; erstere schön erfunden, letztere wohl ein nicht minder schöner Mix aus Dichtung und Wahrheit: Am Bahnsteig 9 3/4 am Londoner King’s Cross fährt, wie natürlich jedes Kind und jeder “Harry Potter”-Fan weiß, am 1. September jeden Jahres um Punkt 11 Uhr der Hogwarts-Express ab.

Zur Person

Michael Philip Jagger, geboren am 26. Juli 1943 in Dartford, England. Im Gemeindesaal von Dartford trat er als Jugendlicher das erste Mal mit einer Band auf. Im Oktober 1961 traf er auf seinen Schulkollegen Keith Richards, ein Jahr später traten die Rolling Stones das erste Mal unter diesem Namen auf.

Und am Bahnhof von Dartford nahe London, genauer gesagt auf Bahnsteig 2, trafen am 17. Oktober 1961 zwei Teenager namens Mick Jagger und Keith Richards aufeinander. Die beiden hatten Jahre zuvor die gleiche Grundschule besucht, sich dann aber wieder aus den Augen verloren. Richards hatte eine Höfner-Gitarre dabei, Jagger einige Blues-Scheiben im Gepäck, unter anderem Muddy Waters. Dessen Song “Rollin’ Stone”, eine Bearbeitung des Standards “Catfish Blues” übrigens, sollte später einer bestimmten Rockband als Namensinspiration dienen.

Jagger war damals 18 Jahre alt, Richards knapp davor. Nach diesem Zusammentreffen am Bahnhof von Dartford nahm für die beiden jungen Herren der Zug in Sachen Musik so richtig Fahrt auf. Nur ein Jahr später, im Juli 1962, traten die Rolling Stones im Londoner Marquee Club das erste Mal unter diesem Namen auf. Der Rest ist, wie es gern heißt, Musikgeschichte.

Aus 18 wird 80. Am 26. Juli feiert Sir Michael Philip “Mick” Jagger seinen 80. Geburtstag. Und wenn alle Familienmitglieder antanzen, wird das wohl ein großes Fest. Denn Jagger, der erst 2016, also im Alter von 73 Jahren, zum achten Mal Vater wurde, ist nicht nur Großvater, sondern auch Uropa. Verheiratet war er übrigens nur zwei Mal: mit Bianca Jagger und Jerry Hall. Ab 2001 war Mick Jagger mit L’Wren Scott liiert. Die amerikanische Modedesignerin wurde 2014 tot in ihrer New Yorker Wohnung aufgefunden – vermutlich Suizid. So weit das biografische Pflichtprogramm.

Rockstars sind freilich mehr als Daten und Fakten; es gilt, den Kern ihrer (Bühnen-)Identität zu erfassen. Die Mitglieder von Bands werden oft mit Körperorganen verglichen. In diesem Sinn wird Keith Richards gern als Herz der Rolling Stones bezeichnet – und Mick Jagger als Hirn. Das war bei den Beatles ähnlich: Lennon galt als Herz, McCartney als Hirn.

Gemeint ist damit Folgendes: Die Herz-Menschen stehen für die Kreativität, das Emotionale, das Geniale; die Hirn-Menschen hingegen für das Pragmatische, das Geschäftliche, dafür, dass der Laden – in dem im Musikgeschäft immer Chaos herrscht – gut läuft. Das eine ist cool, das andere weniger. In dieser Zuteilung – hier der Rausch, dort die Ratio – steckt ein wenig Wahrheit und viel Klischee.

Faktum ist, dass fast alle großen Stones-Songs aus der gemeinsamen “Feder” von Jagger/Richards stammen, das Geniale ist also gerecht verteilt. Fakt ist auch, dass Jaggers ekstatischer Bühnenstil und sein unvergleichliches Charisma einen Gutteil der Faszination dieser Band ausmachen, die seit Ende der 70er-Jahre musikalisch gesehen nichts Wesentliches mehr zuwege gebracht hat. Ein Stil, der bis heute zum optischen Zentrum jeder Stones-Show gehört; modelliert nach dem Vorbild von James Brown, dessen wilde Gestik Jagger zu einer vibrierenden, stets die Grenze der Selbstparodie streifenden Sexualgymnastik choreografierte.

Die Stones funktionieren auch nach 61 Jahren im Geschäft so gut, weil vor allem Mick Jagger die perfekte Illusion verkörpert, dass diese Musik noch Relevanz hat. Hat sie natürlich nicht, so sensationell vital sie auch heute noch live klingt. Die Stones haben deshalb überlebt, weil sie sich längst selbst konserviert haben, aber nicht nach Dose klingen. Das ist kein geringer Verdienst.

Dennoch: Die Revolution frisst ihre Kinder – und Rockstars verspeist sie besonders gern. Wenn die Stones gerade ruhten, nahm Jagger Soloplatten auf oder spielte in Filmen. In “Performance” aus dem Jahr 1969 gab er an der Seite von Anita Pallenberg einen feudal-exzentrischen Rockstar, einen Außenseiter mit deutlicher Affinität zum ursprünglich verachteten Establishment. Klingt aus heutiger Sicht sehr autobiografisch.

Bahnsteig 2, Dartford. Würden Jagger und Richards jetzt dort stehen, würden sie vermutlich grinsend eingestehen, dass der Puls ihrer Band nur deshalb noch schlägt, weil das Hirn auch fühlt und das Herz denkt.