Kultur

„Die Kunst pulverisiert alles Normale“

04.12.2023 • 21:44 Uhr

Regisseur Martin Gruber spricht über den politischen Gehalt der neuen Aktionstheater-Produktion „Alles normal“, die heute im Spielboden Dornbirn uraufgeführt wird.

Im Sommer hat die ÖVP die Debatte um den Begriff des „Normalen“ ins Rollen gebracht – ein gefundenes Fressen für das Aktionstheater Ensemble, das bereits einige Monate später ein neues hochaktuelles Stück parat hat. „Das war natürlich dann eine Einladung, das tut ja so, als ob das so unpolitisch daherkommt. In Wirklichkeit ist es natürlich hochpolitisch. Das ist ein knallhart kalkulierter Terminus, der von irgendwelchen rechten Spin-Doktoren aus dem Faschismus wieder ausgegraben worden ist, weil man annimmt, dass man da eine relative Mehrheit einsacken kann“, beschreibt Regisseur Martin Gruber im Interview. „Das ist ein total schwammiger Begriff, der in Wirklichkeit gar nichts kann. Wenn man diese Leute fragen würde, ‚was ist denn normal?‘, dann stehen sie an.“

Spiegel

Diesen Zustand der politischen Sprache und die massive Ausgrenzung, die mit dem kleinen Eigenschaftswort verbunden wird, hat Martin Gruber in „Alles normal“ verarbeitet. Bei der Mischung aus Stück und Salon d‘amour gehe es darum, das Ganze inmitten des Publikums stattfinden zu lassen. In gemütlicher Lounge-Atmosphäre, mit Bewirtung, multimedialem Setting und eigens zusammengestelltem Salon-Orchester präsentiert Gruber wieder einen gesellschaftlichen Spiegel, indem „jeder seinen Senf dazugeben darf“ genauso wie die Politik so tue, als könne jeder sagen, was er will.
Vor über 20 Jahren hat Gruber das Format ins Leben gerufen, um „noch schneller und noch radikaler“ reagieren zu können. „Dieses Untereinander, also dass die Zuschauer sozusagen mit den Künstler auch dasitzen und das noch unmittelbarer erleben, hat diesen Raum von Performance und Publikum noch einmal aufgebrochen“, beschreibt Gruber. „Es geht darum, Formen zu finden, die wiederum diese Denkprozesse und Fühlprozesse auslösen. Und es ist nicht nur ein rein intellektueller Prozess. Es ist ja auch ein emotionaler Prozess“, sagt der Regisseur, der mit dem Humor auch Distanz und Widersprüchlichkeit schaffen will.

Phänomene

Mit dem Normaldiskurs als „Starting-Point“ hat der Regisseur angefangen, Texte zu generieren, die über Dialoge und Stückentwicklungsprozesse entstehen und dann dramatisiert werden. „Ich habe einfach das Gefühl, dass mehr Leute mehr Diversität generieren können, als wenn ich einen Text allein mache.“ Zusammen mit seinen Schauspielerinnen und Schauspielern durchsucht Gruber in intensiven Dialogen das Alltagsleben nach sozialen Phänomenen, wie Stress, Einsamkeit und all den anderen Problemen und Nöten, um gesellschaftspolitisch-relevantes Theater zu machen.
„Der prekäre Kontext wird hochgeschraubt, um etwas über die Gesellschaft zu erzählen. Aber es ist natürlich alles schon in uns. Von dem gehe ich aus, beschreibt Gruber. „Da muss ich gar nicht sagen, das sind die Armen aus dem So-und-So-Bezirk. Das stimmt nicht. Wir haben das alles in uns. Wir leiden darunter, dass wir total überfordert sind“, sagt Gruber und beschreibt den Normalbegriff als Aufhänger, an dem sich die Leute in der Zeit der Unsicherheit festhalten würden, weil er ihnen Sicherheit vermittle. „Das macht das Ganze so gefährlich, dass man so tut, als ob es irgendwelche Regeln gäbe, die alles einfacher erscheinen lassen würden. Und ‚normal‘ ist da ein herrlicher Begriff für diese Leute, weil er so tut, als ob es verbindet. Aber es führt natürlich zur Spaltung“, sagt Gruber.
In seinem Stück bringt er diese Phänomene in Form, um so Assoziationen beim Publikum auszulösen. „Die Kunst pulverisiert jeden Begriff von normal, die lebt von der Vielfalt, die lebt von der Diversität“, beschreibt der Regisseur die Verpflichtung der Kunst, Machtverhältnisse zu hinterfragen, um Denkmus­ter anschaulicher zu machen. Denn: „Jeder vermeintlich noch so ‚normale‘ Mensch ist so komplex, dass es nicht einmal für irgendeinen vermeintlichen Megadurchschnitt funktioniert.“