Mit dem Kugelschreiber gibt es kein Zurück

Michaela Kessler konnte den heurigen Kulturpreis Vorarlberg für sich entscheiden. Mit der NEUE sprach die Dornbirnerin über Lebensweg, Motive und wie sie Kugelschreiber für sich entdeckte.
Körpergefühle leiten die Hand von Michaela Kessler, wenn sie mit einem Kugelschreiber die Linien des „Kollektiven Wahnsinn“ weiterführt. Seit 2023 widmet sich die Künstlerin dem monströsen Werk auf sieben Metern Papier, das organisch gleichermaßen von Schmerz und Harmonie kündet. Ohne Atelier arbeitet die 30-Jährige, wo immer sie Platz findet. Etwa im Haus ihrer Eltern in Dornbirn, wo sie die NEUE zum Besuch traf.
Textiltechnik, Kunst und Recht
Kessler malt und bastelt von klein auf. Bestimmt, aber mit noch ungenauen Worten, gab sie schon im Kindergarten an, einmal Malerin zu werden. Dabei dachte Kessler nicht ans Anstreichen von Wänden, sondern an das Schaffen von Kunstwerken. Nach dem Besuch der Kreativhautschule in Hard belegte sie den Textilzweig der HTL Dornbirn, wo sie als Jugendliche mit Fragen der Technik und Gestaltung vertraut wurde.

Geleitet vom Wunsch, in der Klasse für Kontextuelle Malerei an der Akademie der Bildenden Künste in Wien zu studieren, zog es die 19-Jährige in die Bundeshautstadt. Da das letzte Schuljahr keine Zeit für die Erstellung einer Bewerbungsmappe zuließ, musste Kessler ein Jahr auf ihr Ansuchen warten. Stattdessen wurde sie Studentin an der Kunstschule Wien. Unglücklich über das Angebot machte die Dornbirnerin das Beste aus ihrer Zeit und widmete sich konstant dem Schaffen und Verstehen.

Nachdem Kessler zu ihrem einstweiligen Leid nicht an der Akademie aufgenommen wurde, begann sie ein Studium der Rechtswissenschaften. „Als Kind konnte ich mir auch vorstellen, Anwältin zu werden. Dabei hatte ich das Gefühl, dass ich wie beim Schach nur die Regeln lernen muss, um Fälle zu gewinnen“, schildert die Künstlerin. Nach wenigen Semestern wurde ihr klar, dass sie sich nach einem Leben mit kreativem Ausdruck sehnt. Kurzerhand wechselte die Dornbirnerin zu ihrem gelernten Handwerk und absolvierte ein Praktikum beim Modedesigner Jürgen Christian Hörl: „Seine Kunden sind österreichische Stars wie Nina Pröll oder Mirjam Weichselbraun.“

Der erstrebten Zukunft nicht fündig geworden, hielt sich Kessler mit Schachunterricht an Volksschulen über Wasser. Erst mit einer Bewerbung für die Kunstuniversität Linz wendet sich ihr Blatt. „Die Aufnahme hat auf Anhieb geklappt. Linz steht zwar im Schatten Wiens, dafür herrscht an der dortigen Uni eine viel familiärere Stimmung“, betont die diesjährige Gewinnerin des Kulturpreis Vorarlberg. In der „Stahlstadt“ angekommen, studierte Kessler ab 2017 Angewandte Kultur- und Kunstwissenschaften, ab 2018 zusätzlich Fashion & Technology.
Körpergefühl
An kunstaffinem Design und akademischer Kunst geschult, rückten Körpergefühle in den Mittelpunkt ihres Schaffens. Dabei erinnert die Künstlerin an Maria Lassnig, die auf dem Boden malend das Innere auf die Leinwand nach außen trug. Ob sie diesen Weg ohne die Pandemie gewählt hätte, ist unklar. Damals musste Kessler ein Auslandssemester in Bilbao abbrechen. Da die Wohnung in Linz noch zwischenvermietet war, begab sich die Künstlerin zurück nach Dornbirn. Vor die Frage gestellt: „Wie kann ich mich mit dem, was ich habe, künstlerisch ausdrücken?“, nahm sie einen Kugelschreiber in die Hand und begann zu zeichnen. „Schon davor habe ich meine konzeptuellen Skizzen mit Kugelschreibern angefertigt und mir gefällt das Blau. Also dachte ich, warum nicht?“, gibt Kessler gelassen zum Besten, während sie an ihrem gewaltigen Werk weiterarbeitet.

Trude hat einen bissigen Bauch
Surreale Kurzgeschichten ergänzen den „Kollektiven Wahnsinn“. Sie handeln von Lena und Trudi, die durch eine Sicherheitskontrolle müssen. Wäre da nicht der Umstand, dass Trudi drei Bäuche hat, von denen einer bissig ist. Kessler sieht darin eine Parabel „extremer Wandelbarkeit, losgelöst von Weiblichkeit.“
Einen Körper hat man, im Leib ist man. Diesen Widerspruch zwischen verletzlicher Intimität und monströse wachsender Plastizität fassen ihre Arbeiten mit irritierender Genauigkeit. Ohne Anklage zeugen sie vom Skandal, den es bedeutet, in dieser Welt Frau, wenn nicht sogar Mensch zu sein.

Ein November voller Auszeichnungen
Für ihre subtile Kraft findet Kessler wohlverdiente Anerkennung. So wurde sie am 14. November mit dem Ö1 Talentestipendium für bildende Kunst ausgezeichnet. Die auf 10.000 Euro dotierte Förderung richtet sich an Studierende österreichischer Kunst-Universitäten und geht mit einer Ausstellung im Künstlerhaus Wien einher. Mit der Verleihung des Kulturpreis Vorarlberg setzte sich am Montag der Siegeszug der Dornbirnerin fort. Dieser geht ebenfalls mit 10.000 Euro einher und widmet sich heuer dem Format der Zeichnung.
Kesslers Hauptwohnsitz befindet sich immer noch in Linz, wo sie sich nach einem Atelier umschaut. Die Künstlerin könnte sich gut vorstellen, sich zukünftig wieder vermehrt dem Textilen zu widmen.