Kultur

Ein Spiegelbild der Untätigkeit

18.02.2025 • 13:24 Uhr
Rechnitz der Würgeengel
David Kopp (l.), Vivienne Causemann, Anna Rot, Rebecca Hammermüller und Nurettin Kalfa. Köhler

Schauspiel, das sprachlos macht, bot das Landestheater Vorarlberg bei der Premiere von Elfriede Jelineks „Rechnitz (Der Würgeengel)“.

Als wäre es eine Mitternachtseinlage, töteten feiernde Nationalsozialisten kurz vor Kriegsende circa 180 jüdische Zwangsarbeiter. Zeugenaussagen bestätigen das Verbrechen, Untersuchungen die Existenz des Massengrabs. Dessen genaue Lage bleibt aber bis heute ungeklärt. Auch die Haupttäter blieben ungestraft. Elfriede Jelineks 2008 erschienener Text „Rechnitz (Der Würgeengel)“ widmet sich ohne dokumentarischen Anspruch diesem Verbrechen. Die Bühnenfassung der Geschichte wurde bereits zahlreich, aber stets unterschiedlich, aufgeführt. So auch am Vorarlberger Landestheater, wo es am Samstag Premiere feierte.

Rechnitz der Würgeengel
Die Herrschaften haben das Schloss längst verlassen. Köhler

Eine Aura des Verbrechens

Wie an einem Morgen, der ewig dauernd keinen Abend kennt, huschen Boten durch den Saal des Schlosses. Festlich, aber fast kahl, umgibt ihn eine Aura des Verbrechens. Mit gewaltiger Spannung greift diese um sich, als gleich am Anfang der dritte Akt aus Gustav Mahlers erster Sinfonie erklingt. Dabei gelingt es Mira König (Bühnenbild) und Michael Isenberg (Musik), mit einfachsten Mitteln den richtigen Ton zu setzen.

Rechnitz der Würgeengel
Köhler

Während die Herrschaften, teilweise über den Arlberg, längst verschwunden sind, erinnert kein Zeichen an die Opfer. Einzig Boten, gespielt von Vivienne Causemann, Rebecca Hammermüller, Nurettin Kalfa, David Kopp und Anna Rot halten Rede, besser gesagt Geschwätz. Dabei wirken sie, als hätte man Helmut Qualtingers Opportunisten Herr Karl fünfmal geklont und mit oberflächlichen Manieren ausgestattet.

Jeder Satz ist eine Anspielung

Anfangs schimmert eine marxis­tische Reflexion über das Scheitern der Weltrevolution durch das Gerede. Etwa wenn Kalfa anmerkt: „Die Geschichte findet noch gar nicht statt, wenn sie überhaupt stattfindet.“
Auf diese folgen fast schon beiläufige Anspielungen an das Massaker. Dabei gelingt es dem Ensemble mit monströser Chemie, den Schrecken der Geschichte in Sätze zu verpacken, wie man sie genauso gut an einer Bushaltestelle hören könnte. Dazu kommen tolpatschige Bewegungen und schöne Musik. Sie regen ein Lachen an, worauf sich Scham im geöffneten Herz breitmacht.

Rechnitz der Würgeengel
Köhler

An die Nachgeborenen

In ihrer Rolle als Verkünder entstammen die Boten den Dramen der griechischen Antike. Doch auf der Bühne des Landestheaters wirken sie wie ein Spiegel der untätigen Nachgeborenen. Diese wissen scheinbar alles über das Grauen der Menschheitsgeschichte. Nur nicht, wie man sie ändert.
Dass die Hoffnung auf eine vernünftige Zukunft verflogen ist, markiert die Struktur des Stücks. Denn jede Szene könnte beliebig auf die nächste folgen. Wer hofft, die Dramaturgie würde einem signalisieren, dass bald ein frohes Ende naht, der ist hier fehl am Platz.

Rechnitz der Würgeengel
Köhler

Bérénice Hebenstreit (Regie) und Jennifer Weiss (Dramaturgie) ist es gelungen, der Vorlage, die keine Regieanweisungen beinhaltet, ein packendes Schauspiel zu entlocken, das vom über die Geschichte bestens informierten Ensemble mit erschreckender Lebendigkeit in Szene gesetzt wurde.

Die Chronologie des Massakers von Rechnitz:

Oktober 1944
Baubeginn des aus Panzer- und Schützengräben bestehenden Südostwalls im burgenländischen Rechnitz. Franz Podenzin, Gestapobeamter und NSDAP-Ortsgruppenleiter der Gemeinde, und Jose Muralter leiten die Arbeiten. Das Schloss der Adelsfamilie Batthyány dient als Zentrale.

November 1944
Jüdische Zwangsarbeiter aus Ungarn werden nach Westen transportiert und zu Bautätigkeiten gezwungen.

März 1945
Für Arbeiten am Abschnitt Rechnitz werden circa 1000 Zwangsarbeiter in die burgenländische Gemeinde Burg deportiert.

März 1945
Circa 180 arbeitsunfähige Zwangsarbeiter werden nach Rechnitz zum Kreuzstadl transportiert. Am Abend findet im Schloss eine Feier mit Funktionären der NSDAP und Kollaborateuren statt. Unter ihnen das Grafenpaar Batthyány, Podezin, seine Sekretärin Hildegard Stadler und Gutsverwalter Hans Joachim Oldenburg. Gegen 23 Uhr versammelt Podezin 14 bis 15 Gäste. Bewaffnet ziehen sie zum Kreuzstadl, wo sie circa 180 Zwangsarbeiter ermorden. Nach dem Massaker feierten sie bis in die Morgenstunden.

März 1945
18 Zwangsarbeiter, die das Massengrab schaufeln mussten, werden erschossen. Gräfin Margit von Batthyány (geb. Thyssen-Bornemisza) und ihr Mann verlassen Rechnitz. Vor ihrer Ankunft in Lugano residierten sie in Düns.

März 1945
Die Rote Armee erreicht Rechnitz und setzt zum Angriff an.

März 1945
Gegenangriff der Wehrmacht.

März 1945
Laut Zeugenaussagen wird das Schloss durch die deutsche Fliegerabwehr in Brand geschossen.

April 1945
Die Kampfhandlungen enden. Männer aus Rechnitz öffnen im Auftrag der Roten Armee das Massengrab. Die Leichen werden untersucht und das Grab wieder zugeschüttet.

März 1946
Das Massengrab wird erneut geöffnet. Der Rechnitzer Amtsarzt Leo Wiltschke untersucht die Leichen. Danach wird es erneut zugeschüttet.

März 1946
Vor der Einvernahme durch Kriminalbeamte wird der Zeuge Karl Muhr ermordet und sein Haus in Brand gesteckt. Muhr war im Schloss für die Waffenkammer zuständig.

April 1946
13 Personen werden für den Mord an 180 Zwangsarbeitern angeklagt. Unter ihnen Podezin und Oldenburg, die sich laut Gendarmeriebericht wiederholt bei Margit von Batthyány in Düns aufhielten.

April 1946
Aladar Horvath, Assistent des Arztes Wiltschek, wird ermordet.

September 1946
Zeuge Nikolaus Weiss wird ermordet.

7. Jänner 1947
Margit von Batthyány wird als Zeugin, nicht aber als Angeklagte, von der Kantonspolizei Buchs vorgeladen.

April-Mai 1948
Drei Personen werden schuldig gesprochen. Die Hauptverdächtigen Podezin und Oldenburg konnten nicht ausfindig gemacht werden.

1988-2025
Insgesamt 18-mal wurde nach den Leichen der Ermordeten gegraben. Bislang ist nur geklärt, wo sie sich nicht befinden.

DCIM100MEDIADJI_0003.JPG
Ritter

1992
Gründung der Gedenkinitiative RE.F.U.G.I.U.S.

1993
Der Kreuzstadl wird mit privaten Geldern erworben und dem Bundesverband der israelitischen Kultusgemeinden als Gedenkstätte übergeben.

Re.Fu.G.I.U.S Kreuzstadl
Reiss

2000
RE.F.U.G.I.U.S. erwirbt das Areal des Kreuzstadls und umfriedet das Gelände mit Ahornbäumen.

Grabungen 2027 RE.F.U.G.I.U.S
Der Kreusstadl aus der Vogelperspektive.Ritter

2012
Der Informationsbereich der Gedenkstätte wird durch den damals amtierenden Bundespräsidenten Heinz Fischer eröffnet.