Die Zeit liegt in den Händen der Lebenden

„Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ wird im Theater Kosmos zur Reflexionsfläche der Dramaturgie der Existenz.
Eine streng der Handlung folgende Bühnenfassung von Marcel Prousts mehr als 5000 Seiten umfassendem Roman-Zyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ wäre alleine schon aus zeitlichen Gründen absurd. Umso beachtlicher Philip Jenkins rund 80 Minuten dauernde Inszenierung des Werks, die vergangenen Donnerstag am Theater Kosmos in Bregenz Premiere feierte.
Fragmente des Romans verschmelzen in ihr gekonnt mit konkreten Lebenserfahrungen von Menschen aus der Region. Das zentrale Motiv vom subjektiven Charakter der scheinbar objektiven Zeit wird dabei klar greifbar und überaus unterhaltsam.

Erhaben über allem thront George Nussbaumer. Er leiht dem Erzähler Marcel seine Stimme, sein Ich, spielt ihn mit eleganter Ruhe. Ein wuselndes Ungestüm voller Tragik und Humor hingegen Co-Hausherr Hubert Dragaschnig als Charles Swann. Urplötzlich auf die Bühne gebeamt, findet er sich in einer Art Totenreich wider.

Schlichte Vorhänge vermitteln das Gefühl von einem Ort, an dem der Zeitstrahl gebrochen ist. Hier trifft Swann auf seine Ex-Frau Odette. Sabine Lorenz brilliert in dieser Rolle mit subtiler Körpersprache. Rasch hat man den Eindruck, ein einst inniges, tief entfremdetes Paar vor sich zu haben. Mit der Neuerzählung ihrer Geschichte beweisen sie schlicht, dass der Griff der Vergangenheit auf die Gegenwart kein endgültiger ist.
Wenn jede Sekunde zählt
Davon weiß auch Hypnotherapeutin Monika H. Sommerer. Sie ist eine der realen Menschen, die zwischen dem fiktiven Paar-Dialog das Wort ergreift und Einblick in ihre Beziehung und Sicht zur Zeitlichkeit gewährt.

So berichtet die Waldpädagogin Karin Müller-Vögel von der zirkulären Zeitlichkeit des Waldes oder der studierte Astronom Philipp Salzgeber vom Umstand, dass Zeit zwar berechnet werden kann, obwohl unklar ist, was sie eigentlich sein soll.

Der begeisterte Alpinist Julien Sénamaud wandert bevorzugt ohne Uhr. Doch als Mitglied der Bergrettung ist ihm klar, dass bei Einsätzen jede Sekunde zählt, er, falls notwendig, auf der Stelle das Theater verlassen würde.

Wie herausfordernd es ist, gegenwärtig die Zukunft zu sehen, schildert die in der Industrie-Logistik tätige Ophélie Masson.

Den beeindruckenden Höhepunkt brachte Monika Bauer. Vor 80 Jahren überlebte sie als Kind den Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs, durfte als Pfarrersfrau jahrzehntelang keiner Erwerbsarbeit nachgehen. Berufstätig wurde Bauer erst mit Ende 50, später erfüllte sie sich den Traum vom Studium.
So wurde im Theater Kosmos deutlich, dass die Dramaturgie des Lebens eine offene ist.