Vielschichtiges Portrait in Gedichten und Musik

Joyce DiDonato und Kevin Puts machen die Kunst der Lyrikerin Emily Dickinson lebendig.
Die große Werkstattbühne bot kurz vor dem Ende der Bregenzer Festspiele einmal mehr den Rahmen für ein ebenso ungewöhnliches wie begeisterndes Werk: Die amerikanische Mezzosopranistin Joyce DiDonato hat sich 26 Gedichte von Emily Dickinson buchstäblich einverleibt, die der Komponist Kevin Puts auf ihre so ausdrucksstarke Stimme und Bühnenpräsenz zugeschrieben und zu einem großen Ganzen geformt hat. Mit dem Streichtrio „Time for Three“ mit zwei Geigen und Kontrabass waren zudem drei Musiker miteingebunden, die nicht nur ihre Instrumente virtuos beherrschen, sondern dazu auch äußerst harmonisch singen können und zuweilen einen kleinen Background-Chor zur Sängerin bilden.

Das vielschichtige Werk ist in enger Zusammenarbeit des Komponisten mit der Sängerin und den Musikern entstanden und zu rund 80 ungemein dichten und abwechslungsreichen Minuten verschmolzen. Aus dem „klassischen“ Liederabend ist ein durchkomponiertes Musiktheater geworden, das von den Möglichkeiten der Stimme von Joyce DiDonato, ihrem riesigen Ambitus zwischen satter Tiefe und intensiver Strahlkraft in der Höhe, ihrer Wärme in der Mittellage und ihrer Differenzierungskunst inspiriert und geprägt ist. Tenorkollege Andrew Staples, der auch als Regisseur und Fotograf tätig ist, erschafft auf einer kleinen quadratischen Bühne und mit wechselnden Lichtstimmungen (William Reynolds) eine Atmosphäre, die das Innenleben der Dichterin zu spiegeln scheint.
Rebellischer Geist
Emily Dickinson ist eine der vielleicht rätselhaftesten Dichterinnen der Literaturgeschichte. 1830 in einer bildungsbewussten Familie in Amherst, Massachusetts, geboren und mit einem „kristallklaren, rebellischen Geist“ (so ihre Übersetzerin Gunhild Kübler) begabt, hat sie schon in ihrer Jugend Gedichte geschrieben und in kleinen Heftchen gesammelt. Erschienen ist zu Lebzeiten kaum etwas, der Vater verbot ihr das Schreiben. Gequält von Verlustängsten und wahrscheinlich einer unerfüllten Liebe zog sie sich in ihrem Elternhaus immer mehr zurück, verließ ihr Zimmer nur, wenn sie nachts im Garten herumspazierte, kleidete sich in weiße Gewänder und hinterließ Gedichte und Fragmente in zahlreichen Varianten, die zum Teil auf kleinen Zetteln oder Briefumschlägen festgehalten wurden.

AP Photo/Amherst College Archives and Special Collections, and the Emily Dickinson Museum)
Später Ruhm
Nach ihrem Tod im Jahr 1886 fand die Schwester die Texte in einer vollgestopften Kommode. Erst 70 Jahre später in den 1950er Jahren wurden sie veröffentlicht, noch später in eine mögliche Reihenfolge gebracht, Gunhild Kübler hat vor zehn Jahren beim Hanser-Verlag eine zweisprachige Gesamtausgabe der rund 1800 Gedichte herausgebracht. Dickinsons Gedichte sind von einem ganz eigentümlichen Rhythmus geprägt, durchzogen von Gedankenstrichen, sie kreisen um Bilder der Sehnsucht, der Liebe, der Verlorenheit und Einsamkeit, um Tod und Angst, Natur (wie etwa die Bienen), aber auch um innere Kraft.

Reduziertes Bühnenbild
Kevin Puts, der mit Joyce DiDonato anlässlich seiner Oper „The Hours“ über Virginia Woolf zusammengearbeitet und auch dem Streichtrio „Time for Three“ ein Tripelkonzert in die Finger geschrieben hat, wählte 26 Gedichte aus, die dankenswerterweise auch in deutscher Übersetzung auf die Kanten der Bühneninsel projiziert werden. So kann man einzelne Sprachbilder der so starken, aber flüchtigen Lyrik aufnehmen und Atmosphärisches wirken lassen. Die Musik von Kevin Puts ist mal kraftvoll energiegeladen, mal sanft und zart schwebend, weitet sich durch die Klangregie (Colin Egan) in den Raum aus, klingt wispernd oder schwingt sich manchmal zu poppigen Arrangements auf. Die Sängerin kann ihre enorme stimmliche Wandlungsfähigkeit zeigen, sie kriecht förmlich in die Texte hinein, interagiert mit den Musikern. Das reduzierte Bühnenbild mit den herabhängenden weißen Stoffbahnen, den Leuchtstäben und Glühbirnen hat den Anschein von einer höhlenartigen Behausung, eine Schreibkommode ist Arbeitsplatz, Schutzraum und Rückzugsort, durch das Lichtdesign entstehen immer neue Stimmungen.

So rundet sich „No Prisoner be“ – das letzte Gedicht gibt dem Abend den Titel“ – zum Portrait einer vielschichtigen, kraftvollen, aber auch melancholischen und verzweifelten Persönlichkeit, die gefangen in ihrer eigenen Welt, aber auch in gewisser Weise frei wirken kann. Dieses letzte Lied hat die Urkraft eines Gospelsongs, in den das gebannte Publikum mit Standing Ovations einstimmt.
Katharina von Glasenapp