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„Das wäre ein Schlag ins Gesicht der Opfer“

11.04.2025 • 19:21 Uhr
„Das wäre ein Schlag ins Gesicht der Opfer“
Viele Opfer erstatten gar keine Anzeige, so die Erfahrungen von Opferanwalt und Opferschutzeinrichtungen. SYmbolbild APA/Roland Schlager

Bei einer Tagung von Strafverteidigerinnen und Strafverteidigern in Salzburg wurden Änderungen bei Verfahren in Sexualstrafsachen gefordert. Die NEUE hat nachgefragt, wie das in Vorarlberg gesehen wird.

“He said. She said“ (er sagte, sie sagte, Anm.) war das Motto des Österreichischen StrafverteidigerInnen-Tages, der am vergangenen Wochenende in Salzburg mit 220 Teilnehmenden über die Bühne gegangen ist. Ein Motto, das schon ein wenig darauf hinweist, worum es gegangen ist: Bei der Tagung wurden Änderungen bei Verfahren in Sexualstrafsachen thematisiert beziehungsweise gefordert. In diesen Fällen gibt es häufig nur die Angaben von Betroffenen und Angeklagten. An objektiven Beweisen mangelt es zumeist.

Die Vereinigung Österreichischer StrafverteidigerInnen sieht aufgrund dessen Verbesserungsbedarf. Konkret wird unter anderem die Zurückdrängung der kontradiktorischen Zeugeneinvernahme, die bei derartigen Fällen häufig angewendet wird, zugunsten der „schonenden unmittelbaren Vernehmung“ in der Hauptverhandlung gefordert. Nicht zuletzt auch, weil Falschbeschuldigungen gerade bei Sexualdelikten „nicht selten sind“, wie der deutsch-schweizerische forensische Psychiater Frank Urbaniok beim StrafverteidigerInnentag erklärte.

“Unbefriedigend”

Franz Josef Giesinger, der seine Kanzlei in Götzis hat, ist der Präsident der Vorarlberger Rechtsanwaltskammer. Die aktuelle Ausgestaltung der kontradiktorischen Einvernahme ist auch für ihn unbefriedigend. „Das ist grundsätzlich die einzige Möglichkeit, das mutmaßliche Opfer zu befragen“, erklärt er. „Die Problematik dabei ist aber, dass man die Fragen nicht direkt stellen kann.“ Opfer und Richter würden sich in einem anderen Raum befinden, die Fragen müssten dem Richter gestellt werden, der sie dann an das Opfer weiterleitet – „vielleicht auch anders, als der Verteidiger sie stellen würde“ – und die Einvernahme kann nur über Video verfolgt werden, erläutert Giesinger. „Das ist einfach ganz etwas anderes, als wenn man die Fragen direkt stellen kann.“

Franz Josef Giesinger
Kammerpräsident Franz Josef Giesinger. Eva rauch

Eine weitere Schwäche der kontradiktorischen Zeugeneinvernahme sei, dass die „eigentlich erkennenden Richter“, also jene der Hauptverhandlung, nicht dieselben sind wie bei der Einvernahme, sagt der Rechtsanwaltskammer-Präsident. „Sie können sich nur das Video ansehen und das ist meines Erachtens auch nicht optimal.“

Falschbeschuldigungen

Auch Giesinger geht davon aus, dass die Zahl der Falschbeschuldigungen in diesen Fällen nicht gering ist: „Das belegen Studien.“ Beim StrafverteidigerInnen-Tag in Salzburg war Urbaniok unter Berufung auf mehrere wissenschaftliche Studien davon ausgegangen, dass zwei bis zehn Prozent der Anzeigen wegen Sexualdelikten „gefälschte Wahrheiten“ seien – für den forensischen Psychiater „die Spitze eines Eisbergs“.

Es gebe verschiedene Gründe, warum es zu falschen Beschuldigungen kommt, sagt der Vorarlberger Rechtsanwalt. Da wäre einmal die bewusste Falschaussage, aber auch suggestive Einflüsse von anderen, sodass jemand von etwas überzeugt ist, das aber nicht wirklich stattgefunden hat. „Meistens steht Aussage gegen Aussage ohne objektive Beweise“, bestätigt Giesinger die Problematik bei Sexualstraftaten.

„Die Problematik
dabei ist, dass man die Fragen nicht direkt stellen kann“

Franz Josef Giesinger, Präsident Vorarlberger Rechtsanwaltskammer

Als Verbesserung der derzeitigen Situation könnte er sich vorstellen, dass bei der Einvernahme des mutmaßlichen Opfers dem Richter die Fragen jeweils direkt über ein Headset mitgeteilt werden und dieser sie dann stellt. Das sei etwa in Liechtenstein möglich, informiert Giesinger.

“Eine Katastrophe”

Für den Frastanzer Anwalt Surena Ettefagh, der häufig Opfer vertritt, wäre eine Zurückdrängung der kontradiktorischen Zeugeneinvernahme hingegen eine „Katastrophe“. „In der Hauptverhandlung wird das Opfer direkt mit dem potenziellen Täter, dem eigenen Vergewaltiger, konfrontiert und dessen Verteidiger, der in der Regel auch nicht zimperlich mit ihm umgeht“, beschreibt Ettefagh das Szenario. „Da wird das Opfer zum zweiten Mal zum Opfer.“

Der Wahrheitsfindung würde eine derartige Änderung sicher nicht dienen, ist der Anwalt überzeugt. Und: „Wir haben nämlich auch genug Opfer, die gar nicht Anzeige erstatten“, so seine langjährige Erfahrung. Und noch etwas merkt er an: Opfer seien lange Zeit im Rechtssystem eher untergegangen. Erst jetzt seien ihnen einige Rechte eingeräumt worden – aber auch eine kontradiktorische Einvernahme könne vom Gericht abgewiesen werden und dann könne das Opfer im Prinzip nichts machen. „Der Opferschutz steckt aus meiner Sicht in den Kinderschuhen“, so Ettefagh.

Surena Ettefagh
Rechtsanwalt Surena Ettefagh. Privat

Die Forderung der Vereinigung Österreichischer StrafverteidigerInnen sieht der Anwalt daher als „Schlag ins Gesicht der Opfer“, zumal die Verteidiger „alle Fragerechte haben, nur nicht direkt. Das Opfer ist in einem geschützten Raum“. Für Ettefagh sind auch die bis zu zehn Prozent Falschbeschuldigungen, die bei der Tagung genannt wurden, nicht nachvollziehbar. Er beruft sich auf eine Studie, bei der von drei Prozent die Rede ist, wobei „es hier schwierig ist, valide Zahlen zu bekommen“, stellt er fest. Und noch eine Frage stellt sich ihm dazu: „Würden die Falschaussagen wegfallen, wenn die Opfer in einem offenen Verfahren bloßgestellt werden?“

„Die Betroffenen sind häufig traumatisiert“

Angelika Wehinger, Leiterin ifs Frauenberatungsstelle bei sexueller Gewalt, über die Forderungen.

Von der StrafverteidigerInnen-Vereinigung werden bei Sexualstraftaten weniger kontradiktorische Einvernahmen zugunsten von Vernehmungen in der Hauptverhandlung gefordert. Wie sehen Sie das?
Angelika Wehinger: Das Recht auf eine kontradiktorische Einvernahme wird bestimmten Opfern von Sexual- und Gewaltdelikten gewährt. Die Betroffenen sind häufig traumatisiert. Eine direkte Konfrontation mit der beschuldigten Person im Rahmen der Vernehmung birgt die Gefahr einer Retraumatisierung und kann die Aussagefähigkeit erheblich beeinträchtigen. Traumatisierten Personen fällt es oft schwer, ihre Erlebnisse klar und chronologisch darzustellen. Die kontradiktorische Einvernahme schafft die nötige Sicherheit und den geschützten Rahmen, um das Erlebte möglichst ohne Angst schildern zu können. Damit wird ein direkter Kontakt zwischen Opfer und Beschuldigtem vermieden – ein entscheidender Beitrag zur emotionalen Entlastung der Betroffenen. Die kontradiktorische Einvernahme stellt daher eine wesentliche Errungenschaft in Bezug auf die Opferrechte im Strafverfahren dar.

Glauben Sie, dass eine Einvernahme bei der Hauptverhandlung Opfer davon abhalten könnte, Anzeige zu erstatten?
Wehinger: Sexualisierte Gewalt ist nach wie vor ein Tabuthema, das von zahlreichen Mythen und gesellschaftlichen Vorurteilen geprägt ist. Diese beeinflussen nicht nur das Verhalten der Betroffenen selbst, sondern auch den Umgang ihres Umfelds mit der Thematik sowie das Vorgehen von Polizei und Justiz. Ein weitverbreiteter Mythos ist etwa, dass eine Frau, die tatsächlich vergewaltigt wurde, sofort Anzeige erstattet. In Wahrheit vergeht häufig viel Zeit, bis sich Betroffene zu diesem Schritt entscheiden – wenn überhaupt. Angst vor Schuldzuweisungen oder Ablehnung im Umfeld führen oft dazu, dass erlebte Gewalt verschwiegen oder nicht angezeigt wird. Eine Prävalenzstudie aus dem Jahr 2022 zeigt, dass jede dritte Frau ab dem 15. Lebensjahr körperliche und/oder sexuelle Gewalt erlebt hat – doch nur etwa neun Prozent zeigen eine Vergewaltigung an. Noch weniger Fälle führen zu einer Verurteilung; viele Verfahren werden eingestellt oder enden mit einem Freispruch.

Angelika Wehinger
Angelika Wehinger von der ifs-Beratungsstelle. ifs/Dünser

Wissen Sie, wie die Opfer kontradiktorische Einvernahmen erleben?
Wehinger: Die Einvernahme von Opfern erfordert in der Regel eine sehr detaillierte Schilderung des Erlebten. Für die Betroffenen stellt dieser Prozess stets eine große Belastung dar. Besonders bei Gewalt- und Sexualdelikten sind die Opfer gezwungen, vor fremden Personen sehr persönliche und intime Details offenzulegen. Dies kann für sie besonders schwierig und emotional herausfordernd sein. Viele Betroffene fühlen sich nach der Aussage erschöpft, müde, aber auch erleichtert, den Schritt bewältigt zu haben.

Immer wieder – auch bei der Tagung – ist die Rede davon, dass es in diesem Bereich viele Falschbeschuldigungen gibt. Wie schaut das aus Ihrer Sicht und Erfahrung aus?
Wehinger: Mir sind keine Studien bekannt, die belegen, dass Falschbeschuldigungen bei Sexualdelikten häufiger vorkommen als bei anderen Straftaten. Vielmehr zeigt die Beratungspraxis, dass viele Frauen sexualisierte Gewalt erst mit zeitlichem Abstand thematisieren. Die Anzeige solcher Taten wird oft hinausgezögert – aus Angst, Scham und aufgrund gesellschaftlicher Tabuisierung. Oftmals wird auch nie Anzeige erstattet.