Politik

Ukraine-Krieg: “Wir erleben eine Zäsur in Europas Sicherheitspolitik”

24.02.2022 • 22:33 Uhr
Deutsche Soldaten auf einem Nato-Stützpunkt in Vilnius, Litauen
Deutsche Soldaten auf einem Nato-Stützpunkt in Vilnius, Litauen AP

Militärexperten Oberst Markus Reisner sieht einen “Kalten Krieg 2.0”.

Genau nach Drehbuch verlaufe das Vorgehen der russischen Streitkräfte, sagt Oberst Markus Reisner, der für das Bundesheer die Lage in der Ukraine analysiert. Mit der Massivität der Angriffe soll einerseits das Zusammenbrechen der ukrainischen Armee beschleunigt, aber auch Signale gesetzt werden, so der Experte: „Schaut her, was wir können“ und „Wir sind wieder zurück“.

Soweit decke sich die russische Strategie mit dem Vier-Phasen-Modell, mit dem die Militärstrategen die Entwicklung vorgezeichnet hatten. In der Härte ihrer Angriffe folge Russlands Armee nur der Logik, die Wladimir Putin mit seiner Fernsehansprache am Montag vorgegeben habe. Damit stelle Russland der Welt seine Überlegenheit in Luft, Land, Wasser und im Cyberraum demonstrativ zur Schau.

Enthauptungsschlag

Methoden der modernen Kriegsführung runden die Strategie ab. So haben die Russen flächendeckend SMS an Handys in der Ukraine geschickt. Mit einer klaren Botschaft, so Reisner: „Wir haben in einem Enthauptungsschlag alles zerstört. Wehrt euch nicht!“ Stufe für Stufe werde nun an der Eskalationsschraube gedreht. Wie weit noch, das hänge vom Widerstand der ukrainischen Armee ab. „Ich bin überzeugt davon, dass die russischen Verbände vorerst urbane Räume aussparen, um nicht in lange Gefechte verwickelt zu werden.“ Insofern könne das Vorrücken in Richtung Kiew auch nur symbolhaft sein, um die ukrainischen Kämpfer zu demoralisieren.

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Über das finale Ziel der Operation will der Offizier nicht spekulieren. Seine Forderungen habe Putin klargemacht: eine Demilitarisierung der Ukraine und deren Neutralität. Ob das über einen Regimewechsel erfolge, sei da zweitrangig. Das Szenario einer (Teil-)Besetzung ist Reisner aber noch zu diffus. Was schnelle Siege zählen, habe man im Irak gesehen: „Da ist man auch mit relativ geringen Kräften einmarschiert, hat einen Sieg reklamiert, war aber nach wenigen Monaten in langwierige Kämpfe involviert.“

Möglicher Luftraum-Konflikt

Dass die Nato nun Truppen an ihren östlichen Rändern verstärkt, diene eher der Beruhigung der betroffenen Staaten. Eine direkte Konfrontation halten Experten weiter für unrealistisch. Die bündnisfreie Ukraine kann sich nicht auf Nato-Beistand berufen. Ein russischer Angriff auf die baltischen Staaten sei nicht absehbar. Wo aber wäre die rote Linie überschritten, damit die Nato eingreift? „Eine mögliche Auseinandersetzung im Luftraum könnte der nächste Gamechanger werden“, sagt Reisner.

Oberst Markus Reisner
Oberst Markus Reisner, Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung an der Militärakademie Wiener Neustadt. bmlv

Die Sicherheit Mitteleuropas und damit Österreichs sieht er auf mehreren Ebenen beeinträchtigt, am ehesten durch wirtschaftliche Folgen. Eine Energie- und Rohstoffknappheit habe das Potenzial zur Destabilisierung einer Gesellschaft. Sicherheitspolitisch erfahre Europa jedenfalls „eine Zäsur mit Folgen, deren Ausmaß uns noch nicht bewusst ist“. Reisner spricht von einem „Kalten Krieg 2.0“, weshalb auch Österreich seine Situation neu beurteilen müsse.

Noch deutlicher wird der aus der Steiermark stammende Militärstratege Franz-Stefan Gady: „Dieses in Europa verbreitete Denken, Krieg finde nur mehr in hybrider Form und im Cyberraum statt, ist mit heute Geschichte. Wir müssen uns wieder auf die konventionelle Landesverteidigung konzentrieren, vor allem in Österreich.“