99-Jährige in Deutschland verurteilt

Frühere KZ-Sekretärin Irmgard F. wurde mit 99 Jahren rechtskräftig verurteilt. Unter anderem wegen der Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen. Das Urteil des Bundesgerichtshofs ist in mehrerlei Hinsicht besonders.
Wo fängt Schuld an und wo hört Sühne auf? Ist eine 99-jährige Dame, die als Schreibkraft in einem KZ arbeitete, eine Gehilfin des Massenmords? Ja, sagt der Bundesgerichtshof (BGH) in Deutschland. Gestern bestätigte dieser die Verurteilung von Irmgard F. – einer Revision gegen ein früheres Urteil des Landesgerichtes Itzehoe wurde nicht stattgegeben. Die deutsche Pensionistin wurde in insgesamt 10.505 Fällen wegen Beihilfe sowie in fünf Fällen versuchten Mordes zu zwei Jahren Jugendstrafe rechtskräftig verurteilt. Jugendstrafe für eine 99-Jährige? Ja.
Der Werdegang der Irmgard F.
Zwischen 1943 und 1945 arbeitete F. – damals 18, dann 19 Jahre alt – als Sekretärin des Lagerkommandanten im Konzentrationslager Stutthof im heutigen Polen. F. hätte von den Vernichtungspraktiken wissen müssen, urteilte das Gericht. Ihre Verteidigung stellte dies in Abrede. Auch hätte F. im Lager einen Beruf ausgeübt, den sie davor bereits ganz ähnlich ausgeführt hätte – nach ihrer kaufmännischen Lehre war sie zunächst als Stenotypistin in einer Bank in Marienburg tätig.
Die letzten Jahre der Angeklagten
Nach dem Ende des Deutschen Reiches arbeitete F. bis zu ihrer Pensionierung als Verwaltungsangestellte weiter. 2014 zog sie in ein Seniorenheim. Aus diesem versuchte die betagte Frau vor ihrem ersten Verhandlungstag im Jahr 2021 zu flüchten. Die Polizei griff sie wenig später auf. Seitdem musste sie eine Fußfessel tragen. In der Vergangenheit beteuerte F., die in ihren Anhörungen sonst als schweigsame Zuhörerin auffiel, lediglich einmal: „Es tut mir leid, was geschehen ist.“
Das Ende der ‘Schreibtischtäter’-Ära
Die Entscheidung des BGH markiert in mehrerlei Hinsicht eine juristische Zäsur in Deutschland. Durch ein wegweisendes Urteil aus dem Jahre 1969 verfolgte die Justiz „Schreibtischtäter“ lange kaum. Zum ersten Mal gilt für den BGH nun auch die zivile Mitarbeit als „kleines Rädchen“ inmitten eines industriellen Tötungsapparats rechtskräftig als Beihilfe zum Mord. Auch ist das Urteil der womöglich letzte Schuldspruch gegen eine KZ-Bedienstete überhaupt.