Politik

“Wir können es uns nicht leisten, auch nur ein Kind zurückzulassen”

26.08.2024 • 18:15 Uhr
"Wir können es uns nicht leisten, auch nur ein Kind zurückzulassen"
Rauch verweist auf die hohen Kosten, die die Kinderarmut in Österreich verursacht. DPA/Pleul, Stiplovsek

Sozialminister Johannes Rauch und Landesrätin Katharina Wiesflecker (beide Grüne) fordern ein bundesweit einheitliches Drei-Säulen-Modell der Kindergrundsicherung, um Kinderarmut in Österreich zu bekämpfen.

Eine OECD-Studie im Auftrag des Sozialministeriums berechnete im Herbst 2023 erstmals die Kosten, die durch Kinderarmut verursacht werden. Demnach kostet die sozioökonomische Benachteiligung den Staat Österreich jährlich 17,2 Milliarden Euro, das sind 3,6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. “Benachteiligte Kinder haben schlechtere Bildungschancen, was ihre späteren Möglichkeiten der Beteiligung am Arbeitsmarkt oder den Gesundheitszustand im Erwachsenenalter beeinträchtigt”, ist dazu der Schluss der Studie.

17,2 Milliarden Euro

kosten die Folgen der Kinderarmut den Staat Österreich jährlich. Niedrigere Löhne, höhere Arbeitslosigkeit und schlechte Gesundheit sind die Folgen im Erwachsenenalter – und die Folgekosten trägt der Staat.

“22 Prozent aller Kinder in Österreich leben in einer armuts- oder ausgrenzungsgefährdeten Familie”, zählt Sozialminister Johannes Rauch (Grüne) einen weiteren Indikator auf und ordnet ein: “Das ist eindeutig zu viel.”

Unterstützung ohne Antrag

Dem Problem wollen er und Soziallandesrätin Katharina Wiesflecker mit einer Kindergrundsicherung entgegentreten. Auf einer Pressekonferenz am Montag stellten die Grünen-Politiker ein Drei-Säulen-Modell vor: Ein Grundbetrag für jedes Kind, unabhängig vom Elterneinkommen, stellt die Basis dar. Die zweite Säule beinhaltet einen Zuschuss, dessen Höhe nach Einkommen gestaffelt ist. Zusätzlich sind Sachleistungen inkludiert – etwa ein gratis Mittagessen und kostenlose Betreuungsangebote für jedes Kind. Alle Geldleistungen sollen automatisiert ausbezahlt werden, ohne, dass zuvor ein Antrag gestellt werden muss.

Drei Säulen der Kindergrundsicherung

  1. Grundbetrag für alle Kinder, unabhängig vom Einkommen der Eltern.
  2. Zusätzliche Geldleistung, deren Höhe je nach Einkommen der Eltern gestaffelt ist.
  3. Sachleistungen, z.B.: gratis warmes Mittagessen in der Schule, kostenloser Betreuungsplatz, etc.

Die Umsetzung der Kindergrundsicherung bedarf einer Menge an Vorarbeit. “Wir haben eine Vielzahl von sozialen Familienleistungen. Eine Kindergrundsicherung würde dazu dienen, die bestehenden Leistungen neu zu strukturieren”, erklärt Rauch. Eine bundesweite Umsetzung würde auch den “Fleckerlteppich” der Sozialleistungen in den einzelnen Bundesländern neu ordnen, meint der Minister.

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Rauch will mit der Kindergrundsicherung eine gleichzeitige Neustrukturierung der Sozialleistungen erreichen. Die Grünen

Deshalb peilt Rauch eine Vorlaufzeit von “mehreren Jahren” an. Nach der Wahl soll eine Arbeitsgruppe aus Bund, Ländern und Experten die Details ausarbeiten. Als mögliche Pilotregionen bringt der Minister Vorarlberg als “überschaubares” und Wien als “größeres Bundesland” ins Spiel.

Bildung als Schlüssel

Eine Arbeitsgruppe zum Thema Kinderarmut tagte in Vorarlberg bereits zwischen Februar und Juni. Die 43-köpfige Gruppe mit Fachpersonen aus dem Sozial- und Verwaltungsbereich und aus allen im Landtag vertretenen Parteien arbeitete ein 14-seitiges Papier aus. Darin wird neben Geld- und Sachleistungsunterstützung auch im Bildungsbereich, der Arbeit und im leistbaren Wohnen Handlungsbedarf ausgemacht.

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Die beiden Grünen-Politiker gingen auch auf die Ergebnisse der Arbeitsgruppe ein. Die grünen

“Der Schlüssel gegen Armut ist die Bildung”, sagt auch Katharina Wiesflecker. Sie fordert eine Ausbildungsoffensive in der Elementarpädagogik und einen Ausbau derverschränkte Ganztagesschule und der Lehre. Im Grundschulbereich verweist Wiesflecker auf ein “Volksschulpaket”, das gerade in Arbeit sei.

Wie umsetzbar ist das?

Bleibt noch die Frage nach der Umsetzbarkeit all dieser Forderungen. Selbstredend wollen die Grünen diese Forderung in der Zeit nach der Nationalratswahl einbringen. Laut Rauch stehe auch die SPÖ “zu hundert Prozent” hinter der Kindergrundsicherung. In zehn Jahren werde das sowieso kommen, ist sich der Minister sicher, und verweist auf die demografische Situation: “Wir können es uns nicht leisten, auch nur ein Kind zurückzulassen. Wir sind in Europa eine alternde Gesellschaft und leisten uns den Luxus, Kinder aufgrund mangelnder Bildungs- und Aufstiegschancen auf der Strecke zu lassen. Das ist ökonomisch maximal doof.” Wiesflecker argumentiert daran anknüpfend: “Es ist besser, das jetzt zu machen, anstatt in zehn Jahren aus der Not heraus.”

"Wir können es uns nicht leisten, auch nur ein Kind zurückzulassen"
Neos-Landessprecherin Gamon wundert sich, warum sich Rauch dem Thema Kinderarmut “erst auf den Schlussmetern dieser Regierung” widmet. Hartinger

Fragen nach der Umsetzbarkeit werfen hingegen die Neos auf. „In den letzten Wochen seiner Ministerzeit präsentiert Johannes Rauch ein Projekt, von dem es ein klares Nein seines Regierungspartners gibt“, kritisiert Neos-Landessprecherin Claudia Gamon den Vorschlag der Kindergrundsicherung. Sie finde es „zwar löblich“, dass „der Sozialminister das Thema Kinderarmut nun entdeckt“, äußert aber ihre Verwunderung, warum er sich der Problematik „erst auf den Schlussmetern dieser Regierung widmen will.“
Zur Bekämpfung der Kinderarmut wollen die Neos vor allem bei der Bildung ansetzen. Verschränkte Ganztagsklassen und eine kostenfreie Kinderbetreuung fordert Gamon ebenso wie Wiesflecker, außerdem wiederholt die Neos-Landessprecherin ihre Forderung nach Unterstützung für Brennpunktschulen.

"Wir können es uns nicht leisten, auch nur ein Kind zurückzulassen"
Wallner äußerte sich bei einer ÖVP-Pressekonferenz an der Seite von Barbara Schöbi-Fink zum Vorschlag der Kindergrundsicherung. ÖVP Vorarlberg

Auf Nachfrage bezog auch Landeshauptmann Markus Wallner am Rande einer ÖVP-Pressekonferenz zum Vorschlag der Grünen Stellung. Laut ihm gebe es noch offene Fragen bei der Kindergrundsicherung. Offen sei Wallner für Vereinheitlichungen bei der Familienförderung. „Wir würden ein österreichweites, degressives Modell nach oberösterreichischem oder Vorarlberger Vorbild begrüßen“, so der Landeshauptmann.