Kürzungen des Landes: “Der Druck auf Sozialarbeitende hat deutlich zugenommen”

Johanna Hefel, Professorin für Soziale Arbeit an der Fachhochschule Vorarlberg (FHV), kritsiert im NEUE-Sonntagsinterview die aktuellen Kürzungen des Landes im Sozialbereich und zeigt die Folgen für die Betroffenen auf.
Wie beurteilen Sie aus fachlicher Sicht die aktuellen Kürzungen im Sozialbereich in Vorarlberg? Sind die Maßnahmen angemessen?
Johanna Hefel: Die Kürzungen im Umfang von fünf Millionen Euro bei sieben großen Sozialinstitutionen erachte ich als kritisch. Sie betreffen äußerst vulnerable Gruppen, insbesondere Menschen mit Beeinträchtigungen und Familien in Multiproblemlagen. Speziell die ambulanten Unterstützungen sind beträchtlich gefährdet, die für ein möglichst selbstbestimmten Leben unabdingbar sind. Die Kürzungen wecken Zweifel an den im aktuellen Regierungsprogramm formulierten Zielen „Familienland Nummer eins“ und „Chancenreichstes Land für Kinder“. Sie betreffen die Gesundheits- und Sozialberufe, die systemrelevant sind und dies insbesondere in den letzten fünf Jahren in aller Deutlichkeit aufgezeigt haben.
Welche Konsequenzen haben derartige Kürzungen langfristig für das System der sozialen Dienste in Vorarlberg? Wie wirkt sich das auf Betroffene aus?
Hefel: Insbesondere Kinder und Jugendliche sowie deren Familien sind von den Kürzungen betroffen. Das kann mittel- und längerfristig exklusionsfördernd wirken. Außerdem wird die im Regierungsprogramm versprochene Familienentlastung nicht erfüllt. Deren wegweisende Pfeiler sind zum Beispiel mobile Dienste, persönliche Assistenz und die Sicherung der Tagesstruktur. Ich befürchte, dass sich diese Aufgaben als zusätzliche Herausforderung für Familien – als unbezahlte, weibliche Care-Arbeit – zeigen und die bestehende strukturelle Benachteiligung von Frauen erhöht. Vorarlberg ist in Österreich das Schlusslicht bei der Geschlechtergerechtigkeit: Frauen verdienen 20 Prozent weniger und haben in Folge 46,9 Prozent weniger Pension als Männer. Speziell die weibliche Altersarmut könnte mit derartigen Kürzungen noch mehr zunehmen.

Was lösen Nachrichten über Sozialkürzungen bei Betroffenen und deren Angehörigen aus – auch im Hinblick auf Vertrauen in das System?
Hefel: Man kann nicht von pauschalen Reaktionen sprechen, doch Nachrichten über einschneidende Kürzungen lösen bei Betroffenen zumeist große Sorge und Angst vor der Zukunft aus. Kürzungen können auf der individuellen Ebene als konkrete Herabsetzung von sich als Mensch mit Behinderung empfunden werden. Aber auch Enttäuschung, Ärger und Verbitterung oder Politikverdrossenheit sind nachvollziehbare Reaktionen.
Merken Sie durch die Kürzungen derzeit schon Einschnitte in Ihrer Arbeit?
Hefel: Aktuelle sozialpolitische Entwicklungen und Entscheidungen sind insbesondere in der Praxis ein Thema: Bei Praktika der Studierenden, bei den alltäglichen Erfahrungen berufsbegleitender Studierender, bei Kooperationsveranstaltungen und Forschungsprojekten sowie bei Kolleginnen und Kollegen an der FH Vorarlberg, die in der Praxis arbeiten. Für Studierende wird es zunehmend schwieriger, Praxisplätze zu erhalten. Der Druck auf Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sowie Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Gründe sind der Fachkräftemangel bei ansteigenden Fallzahlen, die deutliche Verschärfung von Multiproblemlagen und Ressourcenknappheit. Insgesamt erleben wir eine Zeit der Überlagerungen und wechselseitigen Verstärkung mehrerer Krisen.
Wie erleben Ihre Studierenden an der FH Vorarlberg die aktuellen Entwicklungen? Ist eine Verunsicherung zu spüren?
Hefel: Es ist Teil des Studiums, aktuelle Entwicklungen und Veränderungen zu bearbeiten und aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten und zu diskutieren. Ich nehme weniger Verunsicherung hinsichtlich der Ausbildung und Berufswunsch wahr, sondern eher das Bedürfnis nach vertieftem Wissen, Verständnis und Positionierung sowie Raum für – wie ich es nenne – gemeinsam laut denken, also Raum und Zeit für inhaltlichen Austausch. Denn Soziale Arbeit hat ein politisches Mandat, das sich an den Menschenrechten und dem internationalen ethischen Code der Profession orientiert. In diesem Sinn ist Soziale Arbeit stets politisch.

Sehen Sie vonseiten der sozialen Einrichtungen Potenzial, ihre eigenen Strukturen zu überdenken und eventuell auch effizienter zu gestalten?
Hefel: Es steht mir nicht zu, über Entwicklungsprozesse der Sozialen Institutionen zu urteilen. Hierfür gibt es ausgezeichnete Kolleginnen und Kollegen in den Institutionen. Wir leben in einer Zeit, in der die Wirtschaftlichkeit einen hohen Stellenwert hat. In der Sozialen Arbeit geht es vielfach um Entwicklung, es ist Arbeit mit benachteiligten Menschen mit multiplen Problematiken. Allerdings benötigt Entwicklung, Zeit und Raum – zu den bereits geschilderten Herausforderungen bewegen sich Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sowie Sozialpädagoginnen und Sonderpädagogen zudem in diesem Spannungsfeld.
Sozialberufe haben kein gutes Standing in der öffentlichen Wahrnehmung – Stichwort Vorurteile und Personalmangel. Welche Auswirkungen haben die Kürzungen auf die Attraktivität des Berufsbilds der Sozialarbeit?
Hefel: Sie sprechen mit dem Fachkräftemangel einen wesentlichen Punkt an. In Vorarlberg sind im Bundesrecht der Fachkräfteverordnung in der aktuellen Fassung von 2025 Fürsorgerinnen und Fürsorger sowie Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter in der regionalen Mangelberufsliste. Das heißt, wir haben in Vorarlberg per Gesetz zu wenig ausgebildete Personen in der Sozialarbeit. Das Standing der Sozialen Arbeit erachte ich durchaus als vielschichtig.
Das bedeutet?
Hefel: Es gibt die Vorurteile nicht zuletzt deshalb, weil Soziale Arbeit sich vielfach mit Menschen in herausfordernden Lebensverhältnissen, in Krisen und mit Randgruppen befasst. Doch Soziale Arbeit gibt es in Österreich seit mehr als hundert Jahren und insbesondere in den letzten 25 Jahren hat sich die Disziplin und Profession in der österreichischen Sozial- und Wissenschaftslandschaft sicht- und wahrnehmbar etabliert. Wir haben in allen Bundesländern seit Jahren deutlich mehr Bewerbungen für das Bachelorstudium, als wir Studienplätze vergeben können. Allerdings haben gravierende Kürzungen im Sozialbereich, Fachkräftemangel und die deutliche Zunahme an Adressatinnen und Adressaten durchaus Potential des kürzeren Verbleibs an Arbeitsstellen, der Wechsel in andere Bereiche bis hin zum Ausstieg, weil die Überlastung zu groß wird und professionelle Soziale Arbeit unter diesen Bedingungen nicht mehr geleistet werden kann. Denn professionelle Soziale Arbeit ist den Menschenrechten und sozialer Gerechtigkeit verpflichtet und arbeitet mit jenen Menschen, für die gesellschaftliche Teilhabe erschwert ist, die aufgrund ihrer Lebenssituation besonders vulnerabel sind und politisch wenig bis gar kein Gehör finden. Wenn diese grundsätzliche Haltung im beruflichen Alltag konstant gefährdet ist, stellt sich die Sinnfrage.
Welche Botschaft würden Sie der Landesregierung abschließend gerne mit auf den Weg geben?
Hefel: Ich würde der Regierung raten, sich am selbst definierten Arbeitsprogramm zu orientieren. Darin steht, dass Vorarlberg auf sozialen Zusammenhalt setzt, dass weniger leistungsfähige Menschen – unabhängig aus welchen Gründen – auf das dichte soziale Netz im Land vertrauen können und möglichst selbstbestimmt in allen Bereichen des Lebens teilhaben können.
Zur Person
Johanna Hefel ist Professorin an der Fachhochschule Vorarlberg, wo sie im Fachbereich Soziales und Gesundheit doziert und forscht. Zudem ist sie Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Soziale Arbeit. Gemeinsam mit Johannes Rauch (Gesundheitsminister a.d.) und ODBS-Geschäftsführerin Julia Pollak ist sie am 25. April für den Vortrag „Das politische Mandat der Sozialen Arbeit“ an der FHV vor Ort.