Vorarlberger zwischen den Fronten in Nahost: „Bin unter den Raketen durchgefahren“

Der Vorarlberger Nahost-Experte Thomas Schmidinger berichtet nach Israels Angriff auf den Iran von seiner turbulenten Rückreise von London nach Erbil (Irak) und schätzt den Konflikt und seine Auswirkungen ein.
Nach Israels Angriffen auf den Iran hat der Konflikt im Nahen Osten eine neue Dimension erreicht. Sie unterrichten im Irak – einem Land, das geografisch zwischen den Streitparteien liegt. Wie haben Sie die Ereignisse persönlich wahrgenommen?
Thomas Schmidinger: Die Angriffe haben gestartet, als ich auf einer Konferenz in London war. So hatte ich das Problem, dass ich nicht mehr zurück in den Irak konnte, weil der ganze Luftraum gesperrt war. Ich bin am Samstag von London nach Kuwait geflogen und dann über den Landweg von Kuwait nach Basra eingereist. Am Sonntag musste ich den gesamten Irak mit Sammeltaxis durchfahren, bis ich um halb zwei in meiner Wohnung in Erbil war. Ich bin sozusagen unter den Raketen durchgefahren, wobei ich von den Raketen nichts mitbekommen habe. Die Lage wirkt auf den ersten Blick ganz normal und ruhig. Die Leute hier sind krisenerprobt. Aber ich habe schon in London Nachrichten von Freundinnen und Freunden hier bekommen, die mich gefragt haben, ob es auch hier gefährlich wird. Bei vielen ist eine große Beunruhigung da. Wir haben heute früh aus den Nachrichten erfahren, dass vermutlich eine Suiziddrohne über Erbil abgeschossen worden ist. Das waren recht spektakuläre Bilder von einem Feuerball, der vor der Stadt niedergegangen ist. Aber persönlich habe ich vom Krieg selbst bis jetzt nichts gesehen.

Wie reagieren Ihre Studenten auf die Situation?
Schmidinger: Wir haben einen Diskussionskreis mit den Studierenden zu aktuellen politischen Fragen. Sie haben mich sofort gebeten, dass wir diese Woche dazu diskutieren und das ursprüngliche Thema fallen lassen. Insgesamt ist es so, dass die Sympathien bei den Studierenden nicht so eindeutig sind. Es ist nicht so, dass in Kurdistan alle pro-iranisch wären und auch nicht so, dass alle pro-israelisch wären. Es gibt eine sehr differenzierte Sicht auf das Ganze. Aber was alle eint, ist, dass sie gewissermaßen geografisch dazwischen sitzen und dass die Besorgnis groß ist, dass der Irak in den Krieg hineingezogen werden könnte. Diese Gefahr ist auf unterschiedlichen Ebenen da. Einerseits sind im Irak pro-westliche und pro-iranische Kräfte bewaffnet und aktiv. Andererseits könnten Kollateralschäden passieren in einem Land, das geografisch dazwischen liegt. Ich glaube, die Gefahr, dass der Irak oder die Kurdistanregion im Land sich selbst in irgendeiner Form an einem Krieg beteiligt, ist relativ gering. Sowohl die Politiker in Bagdad als auch in Erbil setzen alles daran, sich so gut wie möglich herauszuhalten.

Der Iran hat mit der Hisbollah im Libanon, Milizen in Syrien und Irak sowie den Huthi im Jemen viele Verbündete. Könnte ein Flächenbrand in der Region entstehen?
Schmidinger: Die Hisbollah ist seit dem letzten Krieg militärisch stark geschwächt. Die Houthis nicht, die haben auch vor dem Krieg immer wieder Raketen nach Israel geschickt. Das werden sie weiter tun. Viel mehr wird nicht drin sein, militärisch sind der Iran und seine Verbündeten stark geschwächt. Für Israel geht davon keine wirkliche Gefahr aus. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum Israel es wagt, so massiv gegen den Iran vorzugehen. Flächenbrand in dem Sinne droht wahrscheinlich keiner. Aber der Iran hat es zumindest geschafft, sich relativ viele, unerwartete Verbündete durch das Vorgehen Israels zu verschaffen. Es gab eine klare Verurteilung der israelischen Angriffe durch Saudi-Arabien, dem lanjährigen Hauptrivalen, der sich erst kürzlich mit dem Iran versöhnt hat. Und auch von der Türkei gab es scharfe Worte. Israel ist politisch in der islamischen Welt noch mehr isoliert als bisher.
Im Iran gibt es seit Längerem Unzufriedenheit mit dem Regime. Wie wahrscheinlich ist es, dass die Angriffe Israels zu einem innenpolitischen Umsturz führen?
Schmidinger: Es gibt eine große Unzufriedenheit im Iran und eine große, aber sehr gespaltene Opposition. Die persische Bevölkerung, die ungefähr 50 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht, ist sehr patriotisch. Militärische Angriffe von außen fördern eher den Zusammenhalt der Bevölkerung, als dass sie einen neuen Umsturz bringen.
Wie bewerten Sie das iranische Atomprogramm? Droht im Extremfall ein atomarer Konflikt?
Schmidinger: Der Einzige, der im Moment in diesem Gebiet Atomwaffen hat, ist Israel selbst. Der Iran war definitiv nicht an einem Punkt, dass er schon Atomwaffen hätte. Wir wissen auch nicht genau, inwieweit das iranische Atomprogramm tatsächlich ein militärisches war. Da gibt es unterschiedliche Einschätzungen von westlichen Geheimdiensten. Das Problem ist: Die iranische Regierung könnte gerade aus dieser Situation heraus den Schluss ziehen, dass eine atomare Bewaffnung des Irans absolut notwendig ist, um das Land oder das Regime zu sichern. Denn hätte der Iran heute Atomwaffen, würde Israel wahrscheinlich nicht so leichtfertig das Land angreifen. Es könnte sein, dass dieser Angriff das Atomwaffenprogramm des Irans noch intensivieret oder überhaupt erst auslöst. Das wird dadurch verstärkt, dass das iranische Regime durch den unilateralen Ausstieg der USA aus dem Atomabkommen, das schon einmal existiert hat, große Zweifel an multilateralen Lösungen bekommen hat. Was unbestritten ist: Es gibt ein ziviles Atomprogramm im Iran.

Die USA, Russland, China, die Türkei haben unterschiedliche Interessen und Bündnispartner vor Ort. Welche Rolle könnten diese Länder und Europa einnehmen?
Schmidinger: Russland und China sind eindeutig stärker mit dem Iran verbündet, während die USA der letzte klare Verbündete Israels ist. In Europa hat man sich am Beginn des Kriegs in Gaza ganz klar hinter Israel gestellt, aber einige Staaten sind davon mittlerweile abgerückt. Auch die europäischen Reaktionen auf den Angriff Israels auf den Iran sind unterschiedlich ausgefallen. Man kann nicht von einer einheitlichen europäischen Position sprechen, wie so oft, wenn es um außenpolitische Fragen in der EU geht. Europa kann, wenn überhaupt, nur dann eine Rolle spielen, wenn es zu einer gemeinsamen Position findet und so eine Mediatorenfunktion einnimmt. Wobei im Moment das Heft des Handelns eindeutig in Jerusalem und nicht in Teheran liegt. Der Iran hat klar gesagt, dass sie ihre Angriffe einstellen werden, sobald Israel die Angriffe einstellt. Die aktuelle Eskalation geht eindeutig von Israel aus und das Wichtigste wäre, das jetzt einmal zu stoppen. Insofern liegt der wichtigste Trumpf in der Hand der USA.
Wie bewerten Sie die Positionierung Österreichs zu Israel?
Schmidinger: Ich sehe die einseitige pro-israelische Positionierung Österreichs schon länger sehr kritisch, besonders, wenn man sich die humanitäre Lage im Gaza-Streifen anschaut. Aber noch wichtiger als eine Positionsänderung in Österreich wäre mir, dass es tatsächlich den Versuch gibt, eine europäische Position dazu zu entwickeln. Eine klare Verurteilung der Kriegsverbrechen im Gaza-Streifen und eine Anerkennung des palästinensischen Staates durch die EU-Mitgliedstaaten würden der Regierung Netanyahus zu denken geben.

Die Treibstoffpreise sind kurz nach Israels Angriff auf den Iran angestiegen. Welche wirtschaftlichen Folgen drohen uns dadurch in Europa und insbesondere in Österreich, wo noch immer die Auswirkungen der Rezession spürbar sind?
Schmidinger: Der Ölpreis ist immer wirtschaftlich und weltpolitisch relevant. Es hängt stark davon ab, ob sich der Konflikt noch ausweitet. Bleibt es bei einem Luftkrieg zwischen Iran und Israel, dann werden die wirtschaftlichen Folgen für Österreich relativ gering ausfallen. Wenn noch andere erdölproduzierende Staaten – zum Beispiel in der Irak oder Saudi-Arabien – so weit hineingezogen werden würden, dass es zu massiven Preissteigerungen von Erdöl oder Erdgas käme, wären die wirtschaftlichen Folgen massiv. Im Moment halte ich eine solche Ausweitung aber noch für unwahrscheinlich und durch Diplomatie verhinderbar.
US-Präsident Trump rief gestern die iranische Bevölkerung dazu auf, die Hauptstadt Teheran zu verlassen. Viele Menschen folgen dieser Aufforderung. Was ist der Hintergrund?
Schmidinger: Nicht nur Trump hat zur Flucht aufgerufen. Im Laufe des gestrigen Tages gab es eine massive Verschärfung des israelischen Bombardements. Während man zuvor gezielt gegen militärische und atomare Ziele vorging, muss man mittlerweile von einem Flächenbombardement auf Teheran sprechen – eine ähnliche Strategie, wie sie Israel auch in Gaza fährt. Es herrscht Chaos und es gibt viele zivile Opfer. Tausende Menschen versuchen, Teheran zu verlassen und auf das Land zu flüchten, wodurch die Verkehrswege an den Stadtausfahrten verstopft sind.

Gibt es eine Chance auf nachhaltigen, absehbaren Frieden in der Region oder ist diese Hoffnung durch die neuerliche Eskalation in weite Ferne gerückt?
Schmidinger: Sie ist auf jeden Fall in weitere Ferne gerückt denn je. Ohne dass es zu einer Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts kommt und ohne einer Entspannung in der Region wird es wahrscheinlich eher schlimmer als besser werden.
Haben Sie sich persönlich schon Gedanken darüber gemacht, ob Sie im Falle einer möglichen Ausweitung des Konflikts auf den Irak aus Erbil ausreisen und nach Österreich zurückkehren würden?
Schmidinger: Gedanken macht man sich natürlich, aber ich bin niemand, der so schnell davonläuft. Gerade in so einer Situation wie jetzt bin ich froh, bei meinen Studierenden und bei meinen Freundinnen und Freunden hier zu sein. Das ist für mich persönlich leichter, als das Ganze von der Ferne mitanzusehen. Das heißt nicht, dass ich – wenn der Konflikt tatsächlich hierher übergreifen würde – mein Leben riskieren und da bleiben würde. Aber ich sehe im Moment keinen Grund, das laufende Semester hier abzubrechen. Im Sommer, nach den Prüfungen, werde ich sowieso nach Österreich zurückkommen. Ich unterrichte jedes zweite Semester im Irak und jedes zweite Semester an der Universität in Wien. Man wird dann sehen, wie die Lage im nächsten Frühjahr ist. Aber grundsätzlich sehe ich keinen Grund jetzt verfrüht, mich von hier zu „schleichen“.
zur person
Thomas Schmidinger (*1974 in Feldkirch) ist Politikwissenschaftler und unterrichtet an der Universität Wien und ist Associate Professor an der University of Kurdistan Hewlêr in Erbil im Norden Iraks. Seine Expertise zum Nahen Osten teilt er regelmäßig für die NEUE am Sonntag in Gastkommentaren.