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„Ich habe versucht, mir das Leben zu nehmen“

26.05.2024 • 10:56 Uhr
„Ich habe versucht, mir das Leben zu nehmen“
Rhodes GP by Culture & Sports Organization (UCI 1.2), Rhodes, Greece, 9/3/2024. © 2024 Nassos Triantafyllou

Radprofi Moran Vermeulen (26) vom Team Vorarlberg musste Ende März eine Auszeit nehmen. Damals dachte man, er leide an einem Burnout. Doch es war viel dramatischer.

Sie haben sich Ende März aufgrund psychischer Probleme eine Auszeit vom Sport genommen und feiern heute bei Rund um Köln ihr Blitz-Comeback. Zu Beginn kann es daher nur eine Frage geben: Wie geht es Ihnen?
Moran Vermeulen: Das ist eine berechtigte Frage. Es hat sich ehrlich gesagt nicht so viel verändert bei mir, kann es auch gar nicht in der kurzen Zeit. Die Veränderung passiert in kleinen Schritten. Ich spüre, dass es langsam bergauf geht, weil ich zwischendurch Gefühle erleben darf, die ich schon lange nicht mehr hatte. Es ist schwierig in Worte zu fassen, denn irgendwie geht’s ja immer weiter.

Die Frage nach dem „Wie geht’s“ ist ja oft nicht mehr als nur ein Gesprächseinstieg, bei dem sich jeder erwartet, dass man antwortet: Ich bin zufrieden. Im Grunde will niemand hören: Eigentlich geht es mir nicht so gut. Aber in diesem Fall war die Frage wirklich ehrlich gemeint.
Vermeulen: Das taugt mir, dass Sie das so offen aussprechen. So ist es. Auf die Frage „Wie geht’s“ sagt man halt irgendwas, es ist, wie Sie es sagen, keiner will hören: Es geht mir beschissen. Wobei du dir das ja nicht mal selbst eingestehst.

War Ihr Entschluss, sich eine Auszeit zu nehmen, spontan, oder reifte die Entscheidung über einen längeren Zeitraum?
Vermeulen: Im August des Vorjahres war für mich klar, dass das mein letztes Jahr als Radprofi war. Es hat mir einfach keine Freude mehr bereitet. Im Gegenteil. Dann hatte ich aber bei der Portugal-Rundfahrt plötzlich wieder sehr großen Spaß mit dem Team und habe mich wieder umentschieden, ich dachte, es wird sich schon alles einrenken. Als ich aus Portugal zurückgekommen bin, war die ganze Freude wieder weg. Ich habe am 4. September versucht, mir das Leben zu nehmen. Ich wollte mein Rad in den Gegenverkehr lenken, aber das ist mir glücklicherweise misslungen, weil kein Auto kam. Danach habe ich zu mir gesagt: Moran, das machst du nie wieder. Das habe ich mit mir selbst so ausgemacht, weil das eine permanente Lösung für ein temporäres Problem ist.

„Ich habe versucht, mir das Leben zu nehmen“
Nur, weil ein Mensch lächelt, heißt das noch lange nicht, dass es ihm gut geht: Moran Vermeulen leidet an Depressionen. Nassosphotos

Was ein sehr rationaler Ansatz für ein zutiefst emotionales Leid war.
Vermeulen: Das stimmt. Nach diesem Pakt mit mir selbst dachte ich, dass ich das alles schon alleine in den Griff kriegen würde, ich sagte mir: Scheiß dich nicht an, so wie du stellt sich keiner auf dieser Welt an, du bist der Einzige, dem es so geht. Die anderen schaffen es ja auch. Aber danach war alles nur mehr Monotonie. Es hat wenig im Leben gegeben, das mir noch Spaß gemacht hat. Auch körperlich war ich in dieser Phase extrem anfällig, ich war oft krank, ich war verletzt, ich hatte Knieprobleme, dann bekam ich Probleme mit meiner Freundin – es ist einfach alles beschissen gewesen. Tut mir leid, wenn ich mich so ausdrücke, doch so war es einfach. Ich konnte nicht mehr schlafen, habe viel zu viel getrunken, ich habe mich gehasst – alles an mir! Ich habe mich gehen lassen. Diese Freudlosigkeit ist immer noch stärker geworden, die Selbstmordgedanken sind immer wieder zurückgekommen, aber ich habe mir ständig gesagt: Das tue ich nicht!

Es ist schön, dass Sie am Leben sind, und so wichtig, dass Sie davon erzählen. Gab es letztlich einen konkreten Auslöser für Ihre Auszeit?
Vermeulen: Ich bin im März in Rhodos auf dem Balkon gesessen, als mir klar wurde, dass ich meinen Bruder anrufen muss, weil ich mir sonst wirklich etwas antue. Wenn er nicht sofort abgehoben hätte, hätte ich ihn wieder und wieder angerufen, weil ich in diesem Moment spürte, dass mein Leben ansonsten zu Ende geht. Ich habe ihn erreicht und ihm gesagt: Ich kann nicht mehr, ich schaffe es nicht mehr, ich will nicht mehr. Mika ist ja Langläufer, und ich schob damals meinen Zustand auf den Radsport. Als Mensch suchst du die Gründe immer überall außer bei dir selbst. Also habe ich meinem Arbeitsmaterial, dem Rad, die Schuld gegeben, dem Sport allgemein, und den Leistungsdruck im Leistungssport habe ich sowieso nicht mehr ertragen. Ich wollte in diesem Moment meine Karriere als Radprofi beenden.

Was hat Sie davon abgehalten?
Vermeulen: Mein Bruder hat mir die Augen geöffnet. Er sagte, Moran, wenn du jetzt deinen Rücktritt verkündest, gibt es keinen Weg zurück mehr. Er meinte, ich soll erst mal eine Pause kommunizieren: „Zurücktreten kannst du ja immer noch.“ Das war ein sehr guter Rat! Ich war dann vier Tage mit meiner Freundin auf Madeira auf Urlaub, da ist es mir gut gegangen, aber kaum, dass ich wieder zurück war, kamen die immer selben Gedanken und diese Freudlosigkeit wieder zurück. Ich habe mich dann meinen Eltern anvertraut und ihnen gesagt, dass es mir echt nicht gut geht. Ich bin zu meinem Hausarzt, der mich sofort an die Sportpsychiatrie nach Salzburg verwiesen hat. Mein erster Gedanke war: Psychiatrie? Was soll ich da? Aber dann habe ich nachgegeben, bin hin, und dann war innerhalb von Minuten klar, dass ich wegen meiner Suizidgedanken Medikamente benötige. Im Laufe des Gesprächs hat sich herausgestellt, dass ich eine schwere Depression habe. Es wurde ein Therapieplan für mich erstellt, außerdem laufen Tests, ob ich an der Aufmerksamkeitsstörung ADHS leide, was mein psychisches Krankheitsbild beeinflussen würde.

Sie wollen ein Zeichen setzen?
Vermeulen: Ganz genau. Ich will aufzeigen, dass man nicht als Einziger auf dieser Welt psychische Probleme hat, was man sich in so einer Situation einredet: Das macht alles noch schlimmer, weil man sich für einen Versager, einen völlig Depperten hält. Ich will zeigen, dass man nicht alleine ist, dass es Hilfe gibt: Wenn es euch schlecht geht, ruft eure Mama, euren Papa, eure Geschwister an. Wenn ich das schaffe, schafft ihr das auch. Es gibt Hilfe im privaten Umfeld und professionelle Hilfe in Einrichtungen. Die Medikamente sind der Regenschirm, die Therapie ist das Dach über dem Kopf. Ich muss jetzt erst mal ein Jahr lang Antidepressiva nehmen, das Blöde ist nur, wenn du den Arm gebrochen hast, akzeptiert das jeder, dann weißt du auch, wie lange das Ausheilen braucht. Aber bei der Psyche weißt du das nicht, und es spricht auch keiner darüber. Mir hat auch echt gut die NEUE-Serie über die mentalen ­Herausforderungen im Spitzensport gefallen, solche Wachrüttler braucht es.

Wie waren die Reaktionen auf Ihr öffentliches Eingeständnis, dass Sie psychische Probleme haben?
Vermeulen: Es haben sich so viele Sportler bei mir gemeldet, auch internationale Athleten, die ich nur vom Namen her kannte. Es waren viele dabei, die gesagt haben: Mir ging es auch so, aber ich hatte nicht den Mut, es öffentlich zu machen. Einer hat mir gestanden, dass er auch einen Selbstmordversuch hinter sich hat. Überragend war die Reaktion von meinem Boss Thomas Kofler: Er hat sofort alle Termine abgesagt, mit mir gesprochen und gesagt, dass ich ganz normal mein Gehalt weiterbekomme, egal ob ich drei Wochen, drei Monate oder länger ausfalle.

Wie ordnen Sie für sich ein, dass Sie heute in Köln am Start stehen?
Vermeulen: Es ist der größte Erfolg meines Lebens. Nicht meiner Karriere, meines Lebens. Ich existiere, und ich bin bereit zu kämpfen.

Brauchen Sie Hilfe?
Hilfsangebot
Telefonseelsorge-Notruf: 142
Kriseninterventionszentrum:
Telefonnummer: 01/4069595
Infos unter www.suizid-praevention.gv.at
Infos für Jugendliche gibt es
unter www.bittelebe.at