Als der Kaiser seine Elf ins WM-Finale zauberte

Heute jährt sich der Tod von Franz Beckenbauer zum ersten Mal. Erinnerungen an jene WM, bei der er als Teamchef unter chaotischen Bedingungen eine Rumpelmannschaft ins Finale führte: Mexiko 1986.
Der Kaiser war ein Grantler. Als Spieler, als Vereinsboss – und nicht zuletzt als Teamchef der deutschen Nationalmannschaft. Auf öffentlichen Druck hin hatte er 1984 die DFB-Elf übernommen, mit 39 Jahren, auf den Tag genau ein Jahr nach dem Ende seiner Spielerkarriere. Der deutsche Fußball lag nach dem Vorrunden-Aus bei der EM 1984 am Boden. Beckenbauer sollte die DFB-Elf zu altem Glanz führen, dass er keine Trainerlizenz hatte und ihm jedwede Erfahrung fehlte, dämpfte die Hoffnungen und Erwartungen an den Jahrhundert-Libero in keinster Weise. Der Deutsche Fußball-Bund erfand für Beckenbauer das Amt des Teamchefs, ihm zur Seite wurde mit Horst Köppel ein Bundestrainer gestellt, der als Co-Trainer fungierte.
Viel Schrott
Die Deutschen qualifizierten sich mit Teamchef Beckenbauer in einer schwierigen Gruppe souverän für die WM 1986 in Mexiko, verloren allerdings im bedeutungslosen Heimspiel gegen Portugal zum ersten Mal überhaupt ein WM-Qualifikationsspiel. Das Image der deutschen Nationalmannschaft war angekratzt, die Erwartungen vor der WM waren gering. Der DFB-Elf fehlte es massiv an Qualität, spielerisch bewegte sich der zweifache Weltmeister am Offenbarungseid. Beckenbauer verzweifelte regelrecht an der Limitiertheit seiner Mannschaft, polterte wenige Tage vor Beginn der WM: „Erstens wirst‘ nicht Weltmeister, zweitens wirst‘ in zwei Jahren auch nicht Europameister. Das kannst sowieso schon vergessen.“ Der deutsche Fußball werde schweren Zeiten entgegen gehen: „In der deutschen Bundesliga spielt nur mehr Schrott.“
Kapitän Karl-Heinz Rummenigge forderte daraufhin eine Unterredung mit Beckenbauer, doch „Kalle“ war eher Teil des Problems, denn die Lösung: Der knapp 31-Jährige war über seinem Zenit hinaus und zudem nicht fit. Dass der Inter-Stürmer für die WM nominiert wurde, orteten viele als Freundschaftsdienst von Beckenbauer, der bei Bayern zwei Jahre lang mit Rummenigge zusammengespielt hatte. Wie der Kaiser überhaupt für seine Nominierungen öffentlich kritisiert wurde: Beckenbauer setzte auf den ältesten DFB-Kader der Geschichte. Der DFB-Teamchef nahm mit den HSV-Spielern Felix Magath und Ditmar Jakobs zwei weitere über 30-Jährige mit, denen man allgemein die Klasse für ein solch wichtiges Turnier absprach – auch mit Magath und Jakobs hatte Beckenbauer zusammengespielt: in Hamburg. Für Unverständnis sorgte nicht zuletzt auch die Nominierung des Münchners Norbert Eder, der Beckenbauer sogar verblüfft fragte, wie der denn seine Nominierung öffentlich erklären wolle. Von den Jungen nahm der einstige Libero nur Olaf Thon und Thomas Berthold mit, weil, wie Beckenbauer bei seiner Abrechnung vor der WM meinte: „Mit den anderen kannst nicht mal Jugendweltmeister werden. Da ist zu viel Schrott dabei.“

Torhüterfrage
Der Kaiser jedenfalls entschuldigte sich vor den versammelten Nationalspielern für seine verbale Watschn, als Torhüter Toni Schumacher laut lachen musste, weil er wusste, dass es der Teamchef nicht so böse gemeint hatte, entfuhr es Beckenbauer: „Glotz mich nicht so blöd an! Wir haben uns schon verstanden.“
Auch Schumacher war ein Teil des Problems. Der Kölner Schlussmann und sein Herausforderer UIi Stein vom HSV pflegten eine Intimfeindschaft, mussten aber bei der WM irgendwie miteinander zurechtkommen. Schumacher war seit 1980 Stammtorhüter in der deutschen Nationalmannschaft, Stein hatte allerdings die deutlich bessere Saison hinter sich. Viele glaubten, dass in Mexiko die Stunde von Stein schlagen würde, der es bis dahin erst auf sechs Länderspiele gebracht hatte, aber beim letzten Testspiel vor der WM, einem 3:1-Sieg gegen die Niederlande, im Tor gestanden hatte. Als dann Beckenbauer vor dem ersten WM-Spiel gegen Uruguay gewohnt lässig mit „Im Tor spielt der Toni“ seinen Keeper nominierte, begann es in Stein zu brodeln. Stein forderte eine Erklärung, die unbeholfene Begründung machte alles nur noch schlimmer: „Ich weiß genau, du bist in einer Weltklasse-Form. Es gibt keinen, der besser hält als du. Aber hier kannst du nicht spielen“, soll Beckenbauer vor Zeugen zu Stein gesagt haben. Der HSV-Goalie vermutete, dass Schumacher spielte, weil der einen Adidas-Werbevertrag hatte und er nicht.
Schumacher wiederum ertrug Steins Anwesenheit nicht. Der Kölner bat sogar, „außerhalb der Blick- und Giftzone des hasserfüllten ‚Mitspielers‘ Stein trainieren zu dürfen“. Doch nicht nur Schumacher und Stein waren verfeindet, der Riss ging durch die gesamte Mannschaft.
Die Münchner, zu denen auch der ehemalige Bayern-Spieler Rummenigge gehörte, bildeten eine Gruppe, die wohl mehr eine Zweckgemeinschaft, denn eine Schicksalsgemeinschaft war, so sollen sich zum Beispiel Klaus Augenthaler und Lothar Matthäus nicht sonderlich gut verstanden haben. Die Spieler aus dem Norden blieben ebenfalls unter sich, und dann waren da noch die Kölner um eben Toni Schumacher, wobei sich im Laufe des Turniers die Gruppen verschoben. Diese Mannschaft war schlichtweg untrainierbar.
Zapfenstreich
Im Team griffen die Undiszipliniertheiten immer mehr um sich. Jakobs, Augenthaler, Hoeneß und Stein überzogen den Zapfenstreich um fast drei Stunden. Beckenbauer wurde davon informiert, als er mit einem mexikanischen Journalisten zusammensaß. Weil der Mexikaner Deutsch sprach, verstand der Journalist, was Beckenbauer mitgeteilt wurde – und erwähnte beiläufig in seinem spanischsprachigen Artikel, dass mehrere deutsche Spieler „ausgegangen“ seien. Beckenbauer stellte die Ausreißer zur Rede und begann seine Standpauke mit: „Ihr Idioten“. Weiter kam er nicht, denn Hoeneß legte Wert auf die Feststellung, klüger als Beckenbauer zu sein. Eigentlich unfassbar. Die Spieler bekamen 5000 D-Mark Strafe aufgebrummt, nur Stein musste 10.000 bezahlen und bat, stattdessen heimfliegen zu dürfen – auch Augenthaler und Hoeneß wollten abreisen, was Beckenbauer lachend ablehnte.
Die Tonart blieb weiter rau. Die deutsche Bildzeitung griff nun die mexikanische Zeitungsmeldung über den verpassten Zapfenstreif der vier Spieler auf und machte aus „ausgehen“ „fremdgehen“. Das Boulevardblatt titelte am Tag der Anreise der deutschen Spielerfrauen: „Sex im WM-Lager?“ Beckenbauer tobte, kannte die Hintergründe nicht und nannte den mexikanischen Journalisten vor laufender Kamera einen geistigen Nichtschwimmer. Der 40-Jährige befand: „Wenn man kurz zudrückt, dann gibt es ihn nicht mehr.“ Beckenbauer musste sich entschuldigen – nein, diese WM stand unter keinem guten Stern.

Wunderdinge
Die Deutschen hatten mit dem amtierenden Südamerikameister Uruguay, dem EM-Dritten Dänemark und Schottland eine Todesgruppe erwischt. Unsere Nachbarn starteten am 4. Juni 1986 mit einem 1:1 gegen Uruguay in die WM, dabei lagen sie fast über das gesamte Spiel in Rückstand. Erst ein später Ausgleich von Klaus Allofs verhinderte eine herbe Auftaktpleite. Es folgte ein mühevoller 2:1-Sieg gegen Schottland, wieder lag die DFB-Elf in Rückstand. Zum Abschluss der Vorrunde trafen die Deutschen auf Dänemark, das bei der EM 1984 erst im Halbfinale im Elfmeterschießen gescheitert war. Deutschland verlor mit 0:2 und kam nur als Gruppenzweiter weiter. „Wenn man Wunderdinge von mir erwartet, dann hätte man besser einen vom Zirkus Krone holen sollen. Ein Zauberer bin ich nicht“, erklärte Beckenbauer nach der Niederlage. Das mit dem Zaubern sollte aber noch kommen.
Die Stimmung wurde immer noch schlechter, Stein gab dabei den Provokateur. Bei den Gruppenspielen verfolgte der Torhüter auf der Ersatzbank demonstrativ nicht das Spielgeschehen, sondern nahm ein Sonnenbad. Vor dem Achtelfinale gegen Sensationsteam Marokko am 17. Juni 1986 bat der 31-Jährige, auf die Tribüne zu dürfen, der dritte Torhüter Eike Immel solle statt ihm auf die Ersatzbank. Beckenbauer stimmte zu, vor dem Spiel K.o.-Spiel gab der Teamchef die Devise aus, den Gegner niederzukämpfen. Denn den Gegner niederspielen, das wusste der als Libero so hochdekorierte, begnadete Edeltechniker, ging mit dieser Mannschaft nicht. Deutschland würgte sich gegen die Marokkaner mit einem späten Matthäus-Tor ins Viertelfinale. Spielerisch unterbot man selbst die schlimmsten Erwartungen.

Suppenkasper
Auch der Einzug ins Viertelfinale brachte keine atmosphärischen Verbesserungen. Stein saß beim Abendessen mit Hoeneß, Augenthaler, Rummenigge, Jakobs und Matthäus an einem Tisch. Dabei dachte sich die Gruppe ein Spiel aus, es sollten Spitznamen vergeben werden, und die anderen sollten anhand einer Abkürzung herausfinden, wem der Spitzname galt. Stein warf „SK“ in die Runde, als keiner das Rätsel lösen konnte, zeigte Stein auf Beckenbauer und sagte: „Da sitzt er, der Suppenkasper“ und bezog sich damit auf die Knorr-Werbung, die Beckenbauer in den 1960er-Jahren gemacht hatte. Ein Scherz, wie man ihn unter Mitspielern mal macht, doch, und das sagte viel über das seinerzeitige Mannschaftsklima aus, die Bemerkung verließ den Tisch. Im Teamhotel der Deutschen waren auch die mitgereisten deutschen Journalisten untergebracht, die aus Steins Frotzelei eine Titelstory machten.
Jetzt hatte der Torhüter den Bogen überspannt. Stein musste abreisen. „Tut mir leid, Uli, die Order kommt von ganz oben“, erklärte Beckenbauer dem nun doch verdutzten Stein. Der Teamchef war eigentlich bereit, darüber hinwegzusehen, doch DFB-Boss Hermann Neuberger ordnete Steins Rauswurf an. Schumacher fühlte sich erleichtert nach dem Rauswurf seines Rivalen und erklärte später rückblickend: „Beckenbauers Engelsgeduld mit diesem Paket gebündelter Charakterfehler blieb mir rätselhaft.“ Nur, so standen längst nicht alle zu Steins Ausbootung. Gleich mehrere Spieler setzten sich für Stein ein. Kapitän Karl-Heinz Rummenigge sprach von einer „Kölner Mafia“. Schumacher intrigiere, wolle ihn zudem als Kapitän absägen. DFB-Delegationsleiter Egidius Braun drohte „Kalle“ wiederum ebenfalls mit dem Rauswurf, ehe es zum Burgfrieden kam.
Schumacher solle an einen Tisch mit Rummenigge sitzen. Der Kölner weigerte sich: „Ich kann mit Verleumdern nicht zusammensitzen.“ Der 32-Jährige wurde schließlich von Beckenbauer dazu gezwungen, der Kaiser suchte während eines Krafttrainings auch selbst das Gespräch mit seinem Torhüter. Als der Kölner unbeeindruckt weitermachte, platzte Beckenbauer der Kragen: „Wenn du jetzt nicht aufhörst, schmeiß ich die scheiß Hanteln aus dem Fenster.” Schumacher witzelte: „Die kannst du ja gar nicht heben.“ Diese Schlagfertigkeit gefiel dem Kaiser. In der Öffentlichkeit sagte Beckenbauer zu Steins Rauswurf: „Seine gesammelten Werke, die er von sich gegeben hat, haben uns zu diesem Schritt veranlasst.“ So falsch war diese Aussage nicht.
Plötzlich ein Ruck
Am 21. Juni traf Deutschland im Viertelfinale auf Gastgeber Mexiko. Unmittelbar vor der Partie fand das Viertelfinale zwischen Frankreich und Brasilien statt, das Duell der beiden besten Turniermannschaften wurde zum vorweggenommenen Finale. Als die hochklassige Partie in die Verlängerung ging, überlegte Beckenbauer kurz, die Abfahrt zum Stadion zu verschieben, im Wissen, dass er gleich Magerkost von seiner Elf geboten bekommen würde. So kam es auch.
Im Verlauf der Partie wurden die Mexikaner immer gefährlicher, als dann nach 65 Minuten Thomas Berthold mit Rot vom Platz flog, stand Deutschland mit dem Rücken zur Wand. Kurz vor Ende der regulären Spielzeit parierte Schumacher aus kurzer Distanz einen Volleyschuss. In der Verlängerung ging dann aber ein Ruck durch die deutsche Mannschaft, Jakobs überzeugte als Defensivorganisator – und schließlich sah auch ein Mexikaner Rot. Bevor es ins Elfmeterschießen ging, wechselte Beckenbauer für das Duell am Punkt Pierre Littbarski ein.
Plötzlich griffen die Entscheidungen des Kaisers: Schumacher hielt zwei Elfmeter, Littbarski verwandelte den entscheidenden Penalty, Deutschland stand im Halbfinale, wo man, wie schon beim Jahrhundertspiel vier Jahre zuvor, auf Frankreich traf. Die Franzosen um Superstar Michel Platini waren als amtierender Europameister klarer Favorit. Doch Beckenbauer lief nun zu Hochform auf und befand bei seinem ersten Ausblick auf das Halbfinalduell: „Ich glaube, dass die Franzosen mehr Respekt vor uns haben als wir vor denen.“ Beckenbauer lobte nun seine Spieler, sprach davon, stolz auf seine Mannschaft zu sein. Als Stein im Flieger von Deutschlands Sieg erfuhr, ärgerte er sich für die Mexikaner. Nun ja.

Kaiserlicher Spott
Im Halbfinale gegen Frankreich gab Beckenbauer die Marschrichtung vor, offensiv in das Spiel zu starten und auf ein frühes Tor zu gehen. Das Tor gelang, Andreas Brehme brachte Deutschland schon in der 9. Minute in Führung. Danach zog sich die DFB-Elf weit zurück, Frankreich verzweifelte an der deutschen Abwehr, bei der nicht zuletzt Eder und Jakobs glänzten. Hatte Beckenbauer also doch alles richtig gemacht. Deutschland erhöhte in der 90. Minute durch ein Tor von Rudi Völler auf 2:0 und zog mit der mit Abstand besten Turnierleistung ins Finale ein. Trotzdem: Eigentlich war das fast schon ein Frevel, dass diese spielerisch so limitierte Mannschaft tatsächlich im WM-Finale stand.
Im kleinen Kreis spottete Beckenbauer zwei Tage vor dem Endspiel gegen Argentinien: „Und wennst‘ ein Glück hast, wirst mit denen auch noch Weltmeister.“ Beckenbauer zählte fast die halbe Mannschaft auf, schlug sich bei jedem Namen mit der flachen Hand an die Stirn und lachte.

Fast noch die Wende
Im Finale am 29. Juni 1986 vor 115.000 Zuschauern im Aztekenstadion schien dann allerdings die Gerechtigkeit zu siegen. Die von Diego Maradona angeführten Argentinier gingen nach 21 Minuten in Führung, Schumacher war unter einer Flanke hinweggesegelt, Jose Brown brauchte nur mehr ins leere Tor einköpfen. Als dann in der 55. Minute Schumacher nur halbherzig aus dem Kasten kam und Jorge Valdano zum 2:0 einschob, schien das Finale entschieden. Doch Deutschland schaffte das Comeback. Ausgerechnet Rummenigge verkürzte in der 73. Minute, acht Minuten später stellten die Deutschen die Fußballwelt auf den Kopf: Völler köpfte in der 81. Minute ein. Das war ja nicht zu glauben.
Die völlig euphorisierte DFB-Elf wollte noch in der regulären Spielzeit den Sieg, entblößte die Abwehr und fing sich in der 84. Minute durch Jorge Burruchaga den entscheidenden Gegentreffer zum 2:3. Nach der WM meinten einige Hamburger Spieler, mit Stein wären sie Weltmeister geworden. Mag sein. Mit einem anderen Trainer als Beckenbauer wäre diese deutsche Mannschaft aber vermutlich schon lange vor dem Finale gescheitert. Vier Jahre später führte Beckenbauer, gestählt durch die Erfahrungen in Mexiko, Deutschland zum Weltmeistertitel.