Inkontinenz-Betroffene erzählt: “Ich hatte Suizidgedanken”

Maria Schuster (79) leidet seit 39 Jahren an Inkontinenz. Eine Erkrankung, die noch immer sehr tabuisiert ist und Betroffene psychisch oft sehr fordert. Auch Schuster durchlebte schwere Zeiten.
„Mir ging es psychisch wirklich nicht gut, ich hatte Suizidgedanken“, sagt Maria Schuster. Das Zitat fällt irgendwann im Laufe des Gesprächs, doch es bleibt in der Luft hängen. Denn es macht deutlich, wie sehr die 79-Jährige unter ihrer Erkrankung gelitten hat und noch immer leidet.

Schuster leidet seit 39 Jahren an Harn- und seit 17 Jahren an Stuhlinkontinenz. Es ist besonders die Stuhlinkontinenz, die das Leben Betroffener komplett umdreht und teilweise völlig aus dem Nichts kommt. So auch bei der 79-Jährigen. Alles begann 2008 auf einer Reise in Fuerteventura, während einer Führung. „Auf einmal bekam ich furchtbare Bauchschmerzen und Durchfall“, erinnert sie sich. Schuster dachte zuerst an eine Lebensmittelunverträglichkeit. Als die Beschwerden zu Hause nicht mehr besser wurden, begann eine lange Odyssee der 79-Jährigen.
Unerträgliche Schmerzen
Doch die Harninkontinenz begann bereits wesentlich früher. Schuster brachte in nur kurzer Zeit zwei Töchter zur Welt. „Durch meine beiden Schwangerschaften innerhalb von 15 Monaten senkte sich meine Blase sehr stark ab, und das führte wiederum zu einer Beckenbodenschwäche“, erinnert sich Schuster. In einer Klinik in Innsbruck wurde ihr empfohlen, sich operieren zu lassen, um die Blase mittels eines Drahtes künstlich anzuheben. Doch bei der Operation im Jahr 1986 lief etwas schief, Schuster litt ab sofort unter unerträglichen Schmerzen und immer wiederkehrenden Harnwegsinfekten. Ganze 16 Jahre lang nahm sie deswegen durchgehend Antibiotika ein.
therapiemöglichkeiten
Es gibt eine Vielzahl an Behandlungsmöglichkeiten, die individuell angepasst werden können. Der Therapieansatz ist meist multimodal, das heißt, mehrere Methoden werden miteinander kombiniert. Unter anderem helfen Beckenbodentraining (Physiotherapie „Frauensachen – Männerthemen“ in Dornbirn), Blasen- und Toilettentraining, Medikamente, transanale Irrigation, Schrittmachertherapie (SNS) oder operative Eingriffe. Auch Psychotherapie und Selbsthilfegruppen können helfen.
Erst im Jahr 2002 entschied sie sich für eine neuerliche Operation. „Das Ganze spielte sich in der Silvesternacht von 2001 auf 2002 ab. Ich hatte so starke Schmerzen, dass ich die ganze Nacht auf der Toilette verbrachte. Am nächsten Morgen bin ich ins Spital gefahren und habe gesagt: Ich gehe hier nicht mehr weg, bis ich operiert werde.“ Während der Operation wurde dann klar, dass das Catgut (die Seile/Drähte, die zur Anhebung der Blase verwendet wurden) sich stark entzündet hatte. Der Eiter blieb in der Bauchhöhle und wurde teilweise über den Harn ausgeschieden, daher rührten die Harnwegsinfekte. „Normalerweise wäre ich an einer solchen Entzündung gestorben“, erzählt Schuster. Bis heute sei es ihr ein Rätsel, wie sie so lange überlebt habe.

Nach dem neuerlichen Eingriff waren die Schmerzen weg. Was blieb, war die Harninkontinenz, mit der sie schon ihre zwei Töchter großziehen müssen hatte. „Ich hätte mich natürlich schonen müssen, mit zwei kleinen Kindern geht das aber nicht. Mit der Harninkontinenz hätte ich leben können“, sagt Schuster.

Suizidgedanken
Doch mit dem Beginn der Stuhlinkontinenz kamen nicht nur körperliche, sondern auch massive psychische Beschwerden hinzu. „Ich habe mich zurückgezogen und bin nirgends mehr hingegangen“, schildert sie. Freundschaften und Beziehungen leiden enorm unter dieser Erkrankung, sagt Schuster. „Man muss alles nach der Toilette planen.“ Sie leitete einige Zeit lang auch eine Selbsthilfegruppe für Betroffene und erinnert sich an schwer einschneidende Erlebnisse von Kursteilnehmenden zurück.
Hilfe für betroffene
Bei psychischen Ausnahmezuständen und Suizidgedanken finden Sie Hilfe unter dem TelefonSeelsorge – Notruf 142. Diese Nummer ist rund um die Uhr erreichbar.
Kinder- und Jugendpsychiatrie:
Oberland: 05522 403
Unterland: 05525 63829 / 05572 21274
Ehe aufgrund der Erkrankung in die Brüche gegangen ist. Ein anderer Teilnehmer geht seit der Diagnose überhaupt nicht mehr aus dem Haus.“ Doch auch Schuster selbst stieß irgendwann an das Ende ihrer mentalen Ressourcen. „Ich hatte ganz schlimme Phasen. Ich hatte zeitweise Suizidgedanken“, erzählt sie.
“Wenn ich meinen Hund anschaue, geht es mir besser. Er ist mein allerbester Freund.”
Maria Schuster, Betroffene
Die 79-Jährige holte sich psychologische Hilfe und begann eine Psychotherapie. „Damit ist es jetzt besser geworden. Durch die Therapie bin ich auch viel ruhiger geworden“, so Schuster. Auch ihr Hund stärkt sie in schwierigen Phasen und gibt ihr die nötige Energie, weiterzumachen. „Wenn ich meinen Hund anschaue, geht es mir besser. Er ist mein allerbester Freund.“
Endlich zwei Therapiemethoden
Doch trotz der positiven Einstellung ist die gebürtige Grazerin immer wieder mit demütigenden Situationen konfrontiert. „Die Leute beschimpfen dich, wenn du in der Öffentlichkeit auf die Toilette musst, weil du es nicht halten kannst. Ich habe viele Situationen erlebt, wo ich mich verstecken musste oder beleidigt wurde. Es ist beschämend, man wird von oben herab behandelt und ist dem völlig ausgeliefert.“

Schusters Schließmuskel ist kaputt, das ist ein irreparabler Schaden. Doch mittlerweile hat sie zwei Therapiemöglichkeiten gefunden, um mit ihrer Erkrankung besser zurechtzukommen. Die Transanale Irrigation (TAI) ist ein regelmäßiger, mechanisch gesteuerter Einlauf zur Entleerung des Darms. Der Prozess dauert zwischen zehn Minuten und einer Stunde, erfordert psychische Ruhe und ist stark von der Tagesverfassung abhängig. Doch obwohl sich die 79-Jährige anfangs weigerte, sich der Therapiemethode zu unterziehen, hilft sie ihr mittlerweile sehr. Brigitte Amort, Pflegefachkraft am Stadtspital Dornbirn, war eine der ersten Personen, die Schuster ernst nahm, mit Einfühlungsvermögen betreute und ihr die transanale Irrigation beibrachte. Zuvor war sie über all die Jahre des Suchens von Ärzten vertröstet worden: „Mein Hausarzt hat mir Tees gegen Verstopfung verschrieben. Das hat alles nur noch schlimmer gemacht.“

Außerdem hat Schuster einen elektronischen Schrittmacher (SNS – Sakrale Nervenstimulation) implantiert bekommen. Dieses Gerät unterstützt den Schließmuskel elektrisch. Die Stärke des Stroms kann über ein externes Steuergerät individuell eingestellt werden.
Ein Ruheort auf der Alm
Vor ein paar Jahren kam, zusätzlich zur Inkontinenz, auch noch ein Schlaganfall dazu. Aufgrund ihres aktuellen Gesundheitszustands steht Maria Schuster ein Behindertenausweis zu, mit dem sie Zugang zu jeder behindertengerechten Toilette in ganz Europa – sei es bei Autobahnraststätten oder in Krankenhäusern – hat.

Obwohl die 79-Jährige mittlerweile einen Weg gefunden hat, mit der Erkrankung umzugehen, bleiben eine gewisse Unsicherheit und ein Schamgefühl zurück. „Meine Nachbarn wissen bis heute nichts davon“, erzählt sie. Erholung findet Schuster auf einer Alm in der Steiermark, dem einzigen Ort, an dem sie zur Ruhe kommt, sich nicht unter Beobachtung fühlt und keine Einschränkungen spürt. Nächste Woche soll es dort wieder hingehen.