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Den Rucksack ein Stück leichter machen

31.08.2025 • 09:08 Uhr
Wohngruppe Dornbirn
Treffpunkt: Im Aufenthaltsraum kann Verena Schertler ungezwungene Gespräche führen.SOS-kinderdorf

Seit 20 Jahren bietet die SOS-Kinderdorf-Wohngruppe in Dornbirn ein sicheres Zuhause für Jugendliche in schwierigen Zeiten. Nun soll das Angebot in Vorarlberg erweitert werden, der Bedarf an Betreuungsplätzen ist in den letzten Jahren deutlich gewachsen.

Jugendliche, die nicht bei ihren Eltern aufwachsen können, brauchen einen sicheren Ort, Menschen, die an sie glauben, und Strukturen, die Halt geben. Seit 20 Jahren bietet die Wohngruppe von SOS-Kinderdorf in Dornbirn genau das: ein Zuhause für Mädchen und Buben zwischen 14 und 18 Jahren, die aus schwierigen familiären Situationen kommen. Ziel der Betreuung ist es, junge Menschen auf dem Weg in ihr eigenständiges Leben zu stärken und zu begleiten. Seit der Eröffnung der Wohngruppe 2005 in Dornbirn hat sich die Betreuung stetig weiterentwickelt und wurde immer wieder den individuellen Bedürfnissen junger Menschen angepasst. Aktuell werden in Dornbirn zehn Jugendliche betreut. Und: Die Nachfrage steigt. Der Bedarf an Betreuungsplätzen für Jugendliche in Vorarlberg ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. „Wir machen hier alles, was zu einem Zuhause dazugehört – von Kochen bis Hauskonferenz“, sagt Verena Schertler, die seit fast zehn Jahren als klinische Psychologin und Gesundheitspsychologin in Dornbirn tätig ist. „Beteiligung ist uns ein besonders wichtiger Wert. Die Jugendlichen sollen erleben, dass sie mitgestalten können.“

Wohngruppe Dornbirn
Manuela Wohlgenannt-Welte, Verena Schertler und Jasmina Serramazza-Salkic.

Rahmenbedingungen

„Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für Jugendliche sind heute herausfordernder denn je“, betont Jasmina Serramazza-Salkic, Pädagogische Leiterin der Wohngruppe. Viele seien von psychischen Belastungen, familiären Krisen, den Corona-Nachwirkungen oder finanziellen Schwierigkeiten betroffen. „Wir sehen Jugendliche, die orientierungslos sind und oft das Vertrauen in die Zukunft verloren haben. Viele haben Schwierigkeiten, Freundschaften zu knüpfen, ziehen sich zurück und flüchten sich in digitale Welten.“ Umso wichtiger sei es, ihnen stabile Beziehungen und ein sicheres Umfeld zu bieten. Auch Schertler bestätigt: „Heute fragen wir bei Freundschaften genau nach, ob es sich um reale oder virtuelle Kontakte handelt. Für viele Jugendliche haben Online-Freundschaften die gleiche emotionale Bedeutung wie Begegnungen im echten Leben.“ Die digitalen Welten seien nicht mehr wegzudenken – und für das Team zugleich Herausforderung und Chance.

Vorarlberger Zahlen

Für das Jahr 2024

  • Insgesamt 67 Jugendliche fanden 2024 bei SOS-Kinderdorf in Vorarlberg ein neues Zuhause. 50 wurden in Wohngruppen in Dornbirn und Bregenz unterstützt, 17 Jugendliche und junge Erwachsene wurden im Betreuten Außenwohnen auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden in ihrer Selbstständigkeit gestärkt und begleitet.
  • In der Anlaufstelle wurden neun junge Erwachsene betreut.
  • Bei Rainbows fanden 30 Kinder Unterstützung und Begleitung bei Scheidung, Trennung oder Todesfall in der Familie.

Rucksack wiegt schwer

Viele der Jugendlichen, die in der Wohngruppe landen, tragen schlechte Erfahrungen mit sich. „Ihr Rucksack wiegt oft schwer. Wir können das Vergangene nicht ungeschehen machen, aber wir können in dieser wichtigen Lebensphase zur Seite stehen, ihre Sorgen ernst nehmen und ihnen helfen, neue Perspektiven zu entwickeln“, sagt Schertler. Das Team ist rund um die Uhr da – 365 Tage im Jahr. Gemeinsam mit den Jugendlichen, die sich aktiv einbringen, wird gekocht, gelernt, gefeiert und verreist. „Manche schämen sich, nicht bei ihrer Familie zu wohnen, andere sind unglaublich dankbar“, erzählt Schertler. „Beidem wollen wir gerecht werden.“

Wohngruppe Dornbirn
Die Wohngruppe Dornbirn feiert heuer 20-jähriges Jubiläum.

“Was würde Verena sagen?”

Vertrauen aufzubauen, sei oft der schwierigste Teil. „Der erste Schritt ist, dass die Jugendlichen überhaupt akzeptieren, fremd untergebracht zu sein“, erklärt die Gesundheitspsychologin. „Viele bringen Bindungsstörungen mit. Aber wenn wir erleben, dass sie irgendwann Nähe zulassen und später von guten Erfahrungen erzählen – das sind die schönsten Momente.“ Ein Satz, den Verena Schertler nie vergessen wird, kam von einer Jugendlichen: „In schwierigen Momenten überlege ich: Was würde Verena jetzt sagen?“ – für Schertler ein Zeichen, dass Beziehungen auch unter widrigen Umständen Halt geben können.

Sos-Kinderdorf

Allgemein

Nach der Gründung der ersten Dorfgemeinschaft durch Hermann Gmeiner in Imst (1949) wurde SOS-Kinderdorf bereits 1965 auch in Vorarlberg aktiv. Heute betreut ein multiprofessionelles Team über 60 Jugendliche im Land, gibt ihnen Halt und ein neues Zuhause und begleitet sie auf dem Weg in ihre Selbstständigkeit.
Wohngruppen
In den Wohngruppen werden Jugendliche ab 14 Jahren rund um die Uhr betreut. Die Jugendlichen werden in ihrer Entwicklung und auf dem Weg in ein selbstbestimmtes Leben gestärkt, Beziehungen zu den leiblichen Eltern unterstützt.
Betreutes Außenwohnen
Beim betreuten Außenwohnen werden in einer eigenen Trainingswohnung junge Menschen ab 16 Jahren schrittweise in ihrer Eigenverantwortung gestärkt, gleichzeitig verringert sich beim Übergang in ein selbstständiges Leben die Betreuung durch Erwachsene. Im betreuten Außenwohnen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge finden Jugendliche aus Krisen- oder Kriegsregionen professionelle Hilfe und ein neues Zuhause.
Rainbows-Gruppen
Wenn Eltern sich trennen oder es einen Todesfall in der Familie gibt, bricht für Kinder eine Welt zusammen. Rainbows bietet bei wöchentlichen Gruppentreffen professionelle Hilfe und Begleitung.
Anlaufstelle
Ehemalige Bewohner von SOS-Kinderdorf erhalten Beratung und Unterstützung, wenn sie als junge Erwachsene in schwierige Lebenssituationen geraten. Ermöglicht wird rasche, unbürokratische und unentgeltliche Hilfe und Beratung bei finanziellen, rechtlichen und psychischen Problemen.
Freiwilligenarbeit
Wer Jugendlichen Freude und Unterstützung schenken möchte, kann bei SOS-Kinderdorf auch als Freiwilliger unterstützen. Mehr Infos dazu unter www.sos-kinderdorf.at/freiwilligenarbeit.

Thema Eltern

Ein wichtiger Teil der Arbeit ist auch die Beziehung zu den Herkunftsfamilien. „Eltern spielen eine bedeutende Rolle im Leben der Jugendlichen“, erklärt Manuela Wohlgenannt-Welte, Fachbeauftragte für Elternarbeit. „Wir versuchen, Brücken zu bauen und Kontakte behutsam zu begleiten.“ Für die Jugendlichen bedeutet das Entlastung. „Viele haben in ihrer Familie viel Verantwortung übernommen“, so Wohlgenannt-Welte. „Zu sehen, dass auch ihre Eltern Unterstützung bekommen, nimmt ihnen eine große Last von den Schultern.“ Schertler fügt hinzu: „Eltern bleiben Eltern – ein Leben lang. Deshalb ist es wichtig, sie einzubeziehen und ihre Leistungen anzuerkennen.“

Den Rucksack ein Stück leichter machen
Verena Schertler im Gespräch mit der NEUE am Sonntag. Hartinger

Angebot erweitern

Über 200 Jugendliche wurden in den vergangenen 20 Jahren in der Wohngruppe in Dornbirn begleitet. Nun soll das Angebot von SOS-Kinderdorf erweitert werden: Neben den aktuellen Wohngruppen in Dornbirn und Bregenz sind in Hohenweiler eine Kinderwohngruppe für Sechs- bis 13-Jährige und im Oberland eine weitere Jugendwohngruppe geplant. Gleichzeitig sollen die bestehenden Gruppen kleiner werden. „Das ist wichtig, denn große Gruppen sind für Jugendliche eine enorme Herausforderung“, weiß Schertler. Für sie ist es eine Investition in die Zukunft: „Es ist erfreulich, dass wir im Oberland bald eine neue Jugendwohngruppe eröffnen können. So können wir noch mehr Jugendlichen eine Perspektive geben.“ In diesem Zusammenhang spricht sie auch einen Dank an die Landesregierung aus. „Die Zusammenarbeit funktioniert sehr gut.“

Erfüllende Arbeit

Die Arbeit bleibt anspruchsvoll, aber auch erfüllend. Verena Schertler: „Psychische Gesundheit wird heute auch im Jugendalter ernster genommen. Es gibt mehr Zugänge – etwa Online-Therapie, Apps, Schulpsychologie oder Sozialarbeit. Niederschwellige Angebote sind besonders wichtig, ebenso wie leistbare Therapien.“ Und sie hat klare Wünsche für die kommenden Jahre: „Dass wir weiterhin die nötigen Ressourcen haben, um mit der Zeit zu gehen. Und dass wir in Dornbirn neue, modernere Räumlichkeiten bekommen. Denn ein sicherer Ort, an dem man sich wohlfühlt, ist entscheidend für Jugendliche. Wir wollen ihnen einfach die bestmögliche Unterstützung geben.“ Beim SOS-Kinderdorf geht es nicht nur um ein Dach über dem Kopf, sondern um Beziehung, Vertrauen – und darum, den Rucksack für junge Menschen ein Stück leichter zu machen.

Drei Fragen an Verena Schertler

Wie sind Sie zu SOS-Kinderdorf gekommen?
Verena Schertler: Seit 15 Jahren bin ich bei SOS-Kinderdorf tätig und habe in dieser Zeit vielfältige Aufgaben übernommen – von der Arbeit als Sozialpädagogin in der Wohngruppe in Bregenz bis hin zur Begleitung von Familien im Kinderdorf. Parallel dazu habe ich meine Ausbildung zur Klinischen- und Gesundheitspsychologin abgeschlossen. Seit fast zehn Jahren leite ich nun die Fachstelle für Klinische- und Gesundheitspsychologie in der Wohngruppe in Dornbirn.

Den Rucksack ein Stück leichter machen
Verena Schertler. Klaus Hartinger

Was macht Sie stolz?
Schertler: Das Schönste ist, wenn Jugendliche ihren Weg finden und gestärkt aus dieser Zeit hervorgehen. Manche melden sich Jahre später und erzählen, dass es ihnen gut geht. Solche Begegnungen sind für mich besonders wertvoll.

Wie schaffen Sie die Balance zwischen professioneller Distanz und Nähe zu den Jugendlichen?
Schertler: Das ist eine Herausforderung. Psychologen arbeiten sonst meist in einer Praxis – die Jugendlichen kommen und gehen. Bei uns leben sie hier, wir sind Teil ihres Alltags. Das erlaubt eine niederschwellige Arbeit, zum Beispiel beim Spazieren, Schwimmen oder Shoppen. Natürlich gebe ich auch manchmal Persönliches preis. Aber ich habe gelernt, auch loszulassen: Ich fahre Rad, gehe in die Natur oder tausche mich mit meinem Team aus. Die gute Zusammenarbeit hilft, Belastungen nicht allein zu tragen.