„Seit Kindertagen ein Erlebnis mit allen Sinnen“

Die vier Adventsonntage stehen bei der NEUE heuer im Zeichen der Gedanken katholischer Geistlicher. Diese Woche mit Jakob Geier (30), Priester und Kaplan in Bludenz. Er sagt, dass kirchliche Botschaften aktueller denn je sind und die Kirche dennoch Erneuerung braucht.
Brauchen wir Mitmenschlichkeit?
Jakob Geier: Der Advent sagt, dass Mitmenschlichkeit eine Kategorie Gottes ist. Gott wird mit uns Mensch in Jesus, und ich bin überzeugt, dass Menschsein nur miteinander gelingt. Besonders in den Herausforderungen der jetzigen Zeit, zum Beispiel der Digitalisierung, ist es wichtig, dass wir miteinander Mensch sind und Mensch bleiben.
Würden Sie also sagen, wir brauchen die katholische Kirche – vielleicht mehr denn je?
Geier: Die katholische Kirche ist ein Raum der Begegnung, wo Menschen miteinander der Frage nach Gott nachgehen. Wir müssen immer wieder daran erinnern, dass Gott für uns und mit uns Mensch geworden ist. Auf diese Botschaft bereiten wir uns im Advent vor. Gott weiß, was Menschsein bedeutet, er ist kein abgehobener Gott von oben herab – und das dürfen wir auch als Kirche nicht sein. Die Gottesdienste, die wir feiern, sind eine Erinnerung daran, dass Gott einer von uns geworden ist. Und sie bringen Gemeinschaft. Wir brauchen unsere Kirche mehr denn je, weil wir Menschen auf der Suche nach Gott auf eine gute Art begleiten können, weil Sinnfragen geteilt werden können, weil Räume für Spiritualität geöffnet werden. Spiritualität ist ein Raum, wo der Mensch zu Gott, zu sich selbst und auch wieder zu anderen Menschen finden kann.
Was heißt das Ihrer Erfahrung nach, andere Menschen zu begleiten?
Geier: Es heißt, das zu hören, was der oder die andere braucht. Es gibt Menschen, die eine Hilfestellung brauchen in bestimmten Fragestellungen und das auch ausdrücken. Und dann gibt es Menschen, denen ich als Seelsorger mehr oder weniger zufällig begegne, nach Gottesdiensten, bei Veranstaltungen. Auch dann bin ich ungefragt ein Zeuge und Ansprechpartner dafür, dass Gott in unserer Welt wirkt, wo ich versuche zu zeigen, dass Gott den Weg schon längst mitgeht. Und alles andere ergibt sich dann fast von selbst. Dabei ist es wichtig, nicht alles planen zu können. Es gibt kirchliche Strategien, Strukturreformen, viele Versuche, wie wir als Seelsorgende möglichst breit in der Öffentlichkeit vielen Menschen begegnen können. Trotzdem ist die Unverfügbarkeit das, was die Seelsorge ausmacht. Es braucht die Struktur, und gleichzeitig ist diese Fügung ein wichtiges Element.

Kirche ist eine Struktur, die in die Jahre gekommen ist. An welchen Stellen würden Sie das unterschreiben?
Geier: Überall dort, wo die Wirklichkeit der Menschen ausgeblendet worden ist und überall dort, wo man mit dem Status quo als Glaubender zufrieden ist, wo es keine Entwicklung mehr gibt, wo man es sich zu gemütlich eingerichtet hat als Christ und als Kirche. „Wir wollen so bleiben bis in alle Ewigkeit“, das ist etwas, das dem Wesen der Kirche grundsätzlich widerspricht. Die Kirche ist kein abgeschlossener Wohlfühlraum. Sie ist ein Suchraum, um darauf zu reagieren, was der Mensch in seiner Beziehung zu Gott gerade braucht. Und manchmal braucht’s auch Herausforderungen, damit man sich kreativ weiterentwickeln kann.
Fällt Ihnen da ein Beispiel ein?
Geier: Ich merke das am pfarrlichen Alltag. Es gibt viele Traditionen, wie man das Kirchenjahr feiert, aber es gibt Gottesdienste und andere Formate, wo die Gründeridee ein bisschen verloren gegangen ist. Zum Beispiel, wenn immer schon am Sonntag nach Allerseelen der Kriegersonntag gefeiert wird, aber es in einer Pfarrgemeinde keinen Kameradschaftsbund mehr gibt. Dann muss man sich die Frage stellen dürfen, welche Bedeutung dieser Sonntag noch für den Christen von heute bedeutet. Wie können wir der Menschen gedenken, die in den Kriegen damals, aber auch heute, ihr Leben gelassen haben? Vielleicht auch mit der Haltung, dass jedes Gebet im Gedenken an Kriege auch ein Gebet für den Frieden sein muss.
Sie haben einzelne Gottesdienstformate genannt. Muss sich die Kirche auch im Größeren ändern?
Geier: Ich glaube, die größte Verantwortung und Herausforderung der Kirche ist es, dass die Leute wieder über ihren Glauben reden lernen. Viele Menschen glauben von ihrer Tradition her, können aber ihren Glauben nicht mehr in Worte fassen. Wieder neu darüber zu reden, dass es eine Freude ist, mit Gott in Beziehung zu stehen, was es bedeutet, Jesus als Freund, Bruder, Lehrer, Begleiter zu haben, das ist die wichtigste Aufgabe, an der wir arbeiten müssen. Denn der Glaube lebt von der Verkündigung. Eine zweite Baustelle, die die Kirche vor sich hat, ist die Synodalität. Das meint eine hörende, mitfühlende Haltung zu entwickeln, unter den Verantwortlichen, aber auch unter den Gläubigen in der Kirche. Angefangen beim Papst, der uns diesen Anstoß gibt, bis zu den Bischöfen, Priestern, Seelsorgenden und den Gläubigen. Alle sollen diese wertschätzende Haltung einnehmen, um miteinander auf dem Weg zu bleiben. Und es braucht natürlich auch der Vorsatz, trotz gegensätzlicher Meinungen miteinander auf dem Weg bleiben zu wollen. Es ist das Bekenntnis zur Einheit, dass wir uns als Kirche nicht zerteilen wollen und werden.

„Spiritualität ist ein Raum, in dem der Mensch zu Gott und zu sich selbst finden kann.“
Jakob Geier
Wo sind die Werte der katholischen Kirche aktuell oder aktueller denn je?
Geier: Mit Weihnachten feiern wir das Fest der Erlösung. Dass wir daran glauben, uns nicht selbst retten zu können, hat zwei wichtige Botschaften: Erstens, dass wir das Vertrauen haben, von Gott selbst gerettet und begleitet zu werden, und gleichzeitig, dass wir unseren eigenen Beitrag leisten können, anstatt zu sagen „der liebe Gott wird’s schon richten.“ Dass wir vielmehr für Gott die Augen, Hände, Ohren offenhalten und mitarbeiten, damit auch die anderen erfahren: Erlösung beginnt schon in dieser Welt, nicht erst, wenn wir tot sind. Ein weiterer Wert der Kirche ist auch der Blick und das Vertrauen auf Gott als eine innere Kraft, die nicht manipuliert werden kann. Was ist echt, was trägt wirklich, was ist nicht Fake: Das ist ja inzwischen eine unglaublich wichtige Frage geworden. Auf Gott hat die künstliche Intelligenz – Gott sei Dank – keinen Zugriff.
Inwiefern ist der Advent eine Zeit, in der einem solche Dinge des Glaubens bewusst werden?
Geier: Es ist astronomisch gesehen die dunkelste Zeit im Jahr. Da kann uns die Botschaft helfen, dass das Licht in der Dunkelheit wieder zu wachsen beginnt. Als Christen können wir dort Lichter anzünden, wo es dunkel geworden ist, und dieses Licht können wir selbst sein. Im Helfen, in der Mitmenschlichkeit, im Einsatz für den Frieden, für die Schöpfung. Für mich ist der Advent schon seit Kindertagen ein Erlebnis mit allen Sinnen. Kerzen, der Duft von Weihrauch, Keksen, Orangen und Zimt, Volksmusik und klassische Musik, oder auch Weihnachtskrippen, die ja den Menschen, die nicht lesen und schreiben konnten, bildlich zeigen sollten, was damals passiert ist – all das macht für mich diese Zeit so zauberhaft.