„Es braucht viel mehr Kassenstellen“

Vorarlbergs Gesundheitsversorgung unter Druck: Die Ärztekammer warnt vor Engpässen, Spitäler kämpfen mit Personalknappheit.
Die Lage im Vorarlberger Gesundheitswesen spitzt sich zu – das zeigen nicht nur die Stimmen von Patienten, sondern auch jene aus dem Inneren des Systems. Während Spitäler und Pflegeeinrichtungen an Kapazitätsgrenzen stoßen, spricht die Ärztekammer von einem drohenden Versorgungsnotstand.
„Allein zur Aufrechterhaltung des Status quo braucht Vorarlberg bis 2031 rund 135 zusätzliche Ärztinnen und Ärzte – 71 in Spitälern, 37 im Facharztbereich, 27 in der Allgemeinmedizin.“ Das sagt Burkhard Walla, Präsident der Ärztekammer für Vorarlberg, mit Verweis auf die aktuelle Ärztebedarfsstudie, die gemeinsam mit Land und ÖGK erstellt wurde. Die Gründe für den Mangel liegen laut Walla im demografischen Wandel, einer steigenden Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen – und in der sinkenden Attraktivität von Kassenverträgen.
„Früher war ein Kassenvertrag etwas Begehrtes, heute ist er schwer zu vergeben“, so Walla. Grund seien starre Rahmenbedingungen, hohe bürokratische Anforderungen und eine fehlende Honoraranpassung. „Drei-Minuten-Medizin kann nicht der Anspruch einer qualitätsvollen Versorgung sein.“ Die Ärztekammer fordert flexiblere Verträge, eine Entlastung von Bürokratie – etwa durch den Abbau der Chefarztpflicht – sowie eine Honorierung von Arzt-Patienten-Zeit.
Alexandra Rümmele-Waibel, Obfrau Kurie niedergelassene Ärzte, plädiert zudem für eine stärkere Patientenlenkung. „Nicht jeder Infekt braucht eine sofortige ärztliche Abklärung. Wir brauchen klare Strukturen, damit das System nicht durch Bagatellfälle blockiert wird.“ Digitale Tools, eine effizientere Nutzung der Gesundheitsberatung 1450 sowie klare Vorgaben für den Zugang zu Ambulanzen seien dafür zentrale Elemente.
“Höchste Honorare in Vorarlberg”
Die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK) sieht die Lage deutlich entspannter. In Vorarlberg sei aktuell nur eine von 164,7 Planstellen für Allgemeinmedizin unbesetzt, bei den Fachärzten gebe es keine offenen Stellen. Michaela Glauninger, Sprecherin der ÖGK, verweist auf gezielte Maßnahmen der vergangenen Jahre: „Die Honorare im kassenärztlichen Bereich wurden laufend erhöht – überproportional in jenen Fachgruppen, in denen es Herausforderungen bei der Besetzung gab.“
Im Schnitt würden in Vorarlberg die höchsten Honorare pro Behandlungsfall österreichweit bezahlt. Zusätzlich habe man innovative Modelle eingeführt – etwa Gruppenpraxen, Jobsharing, Anstellungen bei Vertragsärzten und Mutterschutzregelungen für Ärztinnen. Allein 2024 wurden fünf neue Kassenstellen geschaffen, unter anderem für Kinder- und Jugendheilkunde sowie Psychiatrie.
Um die Ambulanzen zu entlasten, arbeite man zudem an einer engeren Verzahnung der Versorgungssektoren: „Über die Hotline 1450 kann inzwischen ein QR-Code an Patientinnen und Patienten gesendet werden, mit dem Spitalsambulanzen Empfehlungen nachvollziehen können“, erklärt Glauninger. Ziel sei es, dringendere Fälle schneller zuzuordnen – und weniger akute Fälle gezielt im niedergelassenen Bereich zu halten.
Personal bleibt knapp
Auch in den Vorarlberger Landeskrankenhäusern zeigt sich der Druck: Planbare Eingriffe wie Katarakt-OPs oder Gelenkersatzoperationen seien organisatorisch aufwendig, die Kapazitäten begrenzt. Die KHBG verweist darauf, dass medizinisch dringliche Eingriffe und Notfälle unverzüglich durchgeführt würden. Für nicht dringliche Operationen gebe es jedoch Wartelisten.
„Die Wartezeiten bei medizinisch nicht dringlicher Indikation haben sich zuletzt deutlich verkürzt“, sagt Andrea Marosi-Kuster, Unternehmenssprecherin der KHBG. Möglich sei das durch zusätzliche Operationstage im LKH Hohenems und die Ausweitung der OP-Kapazitäten in Feldkirch. Rund 87 Prozent der zur Katarakt-OP angemeldeten Patienten wiesen keine medizinische Dringlichkeit auf. Der Engpass liegt laut KHBG vor allem beim Personal. In einzelnen Häusern – insbesondere Feldkirch und Rankweil – sei der Bedarf hoch. Um zu reagieren, rekrutiere man international – etwa Pflegekräfte aus Kolumbien, Indien oder Tunesien. Zusätzlich bilde man Operationstechnische Assistentinnen und Assistenten (OTA) selbst aus. Die ersten zehn Absolventinnen und Absolventen sollen 2026 einsatzbereit sein. „Wir investieren zudem in Wohnraum für Mitarbeiter, in Kinderbetreuung und in moderne Arbeitszeitmodelle“, so Marosi-Kuster.
Hauskrankenpflege als Rückgrat
Ein gänzlich anderes Bild zeichnet der Landesverband Hauskrankenpflege Vorarlberg. „Die Krankenpflegevereine in Vorarlberg sind personell sehr gut aufgestellt“, sagt Geschäftsführerin Johanna Rebling-Neumayr. Der Anteil diplomierter Pflegekräfte liegt bei rund 80 Prozent – ein Wert, der in der mobilen Pflege österreichweit die Ausnahme darstellt.
Insgesamt arbeiten mehr als 420 Pflegepersonen in 66 Vereinen mit 47 Pflegestützpunkten. Das Netz gilt als engmaschig und effizient. „Wir sind oft schneller gefragt als das System nachkommt. Die Krankenhäuser entlassen früher, wir springen ein“, sagt Rebling-Neumayr. Das Vorarlberger Modell sei ein Best-Practice-Beispiel – europaweit. Besonders in Bereichen wie Wundmanagement oder Diabetesberatung werde durch fachliche Spezialisierung gezielt entlastet.
Engpass-Fächer
Unbestritten ist: In manchen Fachbereichen ist die Lage besonders angespannt. KHBG, Ärztekammer und ÖGK nennen übereinstimmend Psychiatrie, Augenheilkunde, Gynäkologie, Kinderheilkunde und Allgemeinmedizin als besonders belastet. Der Ausbau von Primärversorgungseinheiten (PVE) in Dornbirn, Hohenems und Bregenz sei ein richtiger Schritt – reiche aber noch nicht aus, um den strukturellen Bedarf abzudecken.
Versorgung im Umbruch
Trotz punktueller Fortschritte bleibt die Grunddiagnose aller Beteiligten gleich: Das System ist hoch belastet, das Personal knapp, die Nachfrage steigt. Die Kasse verweist auf laufende Reformen und die Spitäler setzen operative Maßnahmen. Die Ärztekammer fordert vehement eine strukturelle Neuausrichtung – mehr Stellen, mehr Flexibilität, mehr politische Priorität.
Belastete Fachbereiche
- Allgemeinmedizin: Zahlreiche Pensionierungen drohen bis 2030, besonders in ländlichen Gemeinden fehlen Nachfolger.
- Psychiatrie: Lange Wartezeiten auf Therapieplätze, insbesondere für Kinder und Jugendliche
- Augenheilkunde: Hoher OP-Bedarf (z. B. Grauer Star), viele Anmeldungen ohne akute Dringlichkeit.
- Orthopädie und Traumalogie: Gelenkersatz- und Wirbelsäulenoperationen stark nachgefragt. KHBG nennt personelle Engpässe als limitierenden Faktor.
- Kinder- und Jugendheilkunde: Versorgungslücken führten zur Errichtung eines Kinder-PVE in Dornbirn. Der Bedarf bleibt hoch.
- Gynäkologie: Pensionierungen und Nachwuchsprobleme belasten die Versorgung – sowohl im Spital als auch im niedergelassenen Bereich.