„Europa ist momentan handlungsunfähig“

Vorarlbergs Militärkommandant Gunther Hessel warnt vor globaler Eskalation, spricht über Neutralität, hybride Bedrohungen und warum auch seine Tochter eines Tages Dienst leisten sollte.
Was bereitet Ihnen im globalen Kontext derzeit am meisten Sorge?
Gunther Hessel: Die zunehmende Aggressivität in der internationalen Politik, und zwar in West und Ost. Es mangelt an Differenzierung, an strategischem Denken. Stattdessen erleben wir Eskalation auf Eskalation. Wenn ich etwa an Donald Trump denke: Seine „Make America Great Again“-Strategie umfasst weit mehr als nur Rhetorik. Die USA wollen strategisch entscheidende Regionen wie die Arktis und Mittelamerika kontrollieren, um an ihrer Nord- und Südflanke andere Anti-US-Einflüsse zu verhindern. Auch Russland verfolgt mit seiner Politik das Ziel, sich als Großmacht neu zu etablieren – nicht zuletzt aus der Kränkung heraus, von Obama als „Regionalmacht“ bezeichnet worden zu sein. Und China handelt langfristig, sehr strategisch, mit dem Ziel, sich weltweit Räume zu sichern. Was all diese Entwicklungen vereint, ist ein zunehmender globaler Macht- und Ressourcenkampf, der sich auf immer mehr Ebenen entfaltet – wirtschaftlich, militärisch, gesellschaftlich und zunehmend auch im digitalen Informations-Raum.
Sie sehen also ein geopolitisches Kräftemessen?
Hessel: Ja, wir erleben eine Weltordnung, in der es nicht mehr nur um einen Wettlauf der Systeme geht, sondern um knallharte Interessen. Dabei geraten Grundwerte wie Menschenrechte oder Rechtsstaatlichkeit ins Hintertreffen – nicht weil sie unwichtig wären, sondern weil sie im Machtpoker oft instrumentalisiert oder übergangen werden. Das ist gefährlich, denn es fehlt zunehmend an echten diplomatischen Bemühungen. Ich wünsche mir eine Abrüstung der Worte – gerade von europäischer Seite. Denn mit jeder Eskalation muss auch ein Weg zur Deeskalation mitgedacht und angeboten werden. Das ist die Pflicht verantwortungsvoller Politik.

Wie beurteilen Sie die Rolle Europas?
Hessel: Europa ist sicherheits- und außenpolitisch momentan kaum handlungsfähig. Durch das Einstimmigkeitsprinzip in der EU ist es extrem schwierig, eine gemeinsame, glaubwürdige Position zu finden. Nationale Interessen stehen oft über der Solidarität. Wir bräuchten eine strategische Achse starker Staaten – etwa Deutschland, Frankreich, Italien – die gemeinsam mit den EU-Institutionen eine eigenständigere Linie entwickeln. Doch dazu fehlt bislang der politische Wille. Solange das so bleibt, ist Europa ein sicherheitspolitischer Zuschauer.
Wie steht Österreich als neutrales Land in diesem Szenario da?
Hessel: Unsere Neutralität ist sehr wertvoll, aber sie muss auch aktiv gestaltet werden. Sie schützt uns nicht automatisch. Nur wenn wir selbst verteidigungsfähig sind, bleiben wir glaubwürdig. Wenn wir zu sehr Partei ergreifen und eine schwache innere Sicherheit und Landesverteidigung haben, könnten wir zum Ziel von Angriffen durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure aus dem Untergrund werden. Gerade als neutrales Land müssen wir besonders klug agieren und gleichzeitig robust aufgestellt sein.
Das Bundesheer als Schutz gegen „Bedrohungen aus dem Untergrund“?
Hessel: Der hybride Gegner arbeitet im Informations- und Cyberraum, mit Spaltung, Fake News, Manipulation, dazu Aufwiegeln und Terror. Unsere Aufgabe ist es, Resilienz zu schaffen: politisch, militärisch und gesellschaftlich. Wir müssen so stabil aufgestellt sein, dass wir kein lohnendes Ziel sind.
„Landesverteidigung beginnt mit einem wachen, respektvollen Miteinander.“
Brigadier Gunther Hessel, Militärkommandant Vorarlberg
Wie wäre Vorarlberg im Ernstfall betroffen?
Hessel: Ein militärischer Ernstfall entsteht nicht über Nacht. Hybride Bedrohungen bauen sich über Wochen oder Monate auf. Im Krisenfall koordiniert das Militärkommando Vorarlberg gemeinsam mit Polizei und Blaulichtorganisationen den Schutz kritischer Infrastruktur und der Bevölkerung. Wichtig ist aber, dass wir bereits im Vorfeld aufmerksam sind und negative Entwicklungen erkennen, durch unsere Nachrichtendienste und Analysezentren, und sofort gegensteuern.

Wie schätzen Sie den Zustand des Bundesheeres ein?
Hessel: Wir sind auf einem sehr guten Weg, aber im Personalbereich ist vieles ausbaufähig. Die Miliz wäre wichtig für die Landesverteidigung, aber ohne verpflichtende Übungen funktioniert sie nicht. Der sechsmonatige Wehrdienst reicht nur aus, um junge Menschen auszubilden, aber daran müssen Übungsphasen folgen, zum Beispiel eine Bereitschaftsphase anschließend, eventuell zwei Monate, sowie in weiterer Folge regelmäßige Milizübungen. Die Frau Bundesminister hat eine Expertenkommission eingesetzt, die eine Verlängerung des Grundwehrdienstes prüfen wird, was ich sehr begrüße.
Sie wurden kürzlich Vater einer Tochter. Ändert das Ihren Blick auf die Wehrpflicht für Frauen?
Hessel: Ich hätte überhaupt kein Problem mit einer allgemeinen Dienstpflicht für alle – Männer und Frauen. Entscheidend ist, wie man diese organisiert. Ob jemand im Zivilschutz, im Sozialbereich oder beim Bundesheer dient – das kann man je nach Eignung und Interesse regeln. Aber den Grundgedanken, dass jeder und jede einen Beitrag leisten sollte, halte ich für verfolgenswert.
„Ich hätte kein Problem mit einer allgemeinen Dienstpflicht für alle – Frauen und Männer.“
Brigadier Gunther Hessel, Militärkommandant Vorarlberg
Welche Rolle spielt künstliche Intelligenz in sicherheitspolitischen Überlegungen?
Hessel: Eine immer größere. KI wird in militärischen Bereichen genutzt – zur Analyse, für Simulationen, zur Entscheidungsunterstützung. Aber je mehr wir im globalen Konflikt stehen, desto mehr wird KI zum Eskalationsverstärker: Sie wird eingesetzt, um Fähigkeiten zu steigern, Entscheidungen zu beschleunigen, sogar autonome Systeme zu betreiben. Das zeigt, wie wichtig eine stabile, respektvolle Weltordnung wäre. Nur in einem friedlichen Umfeld können wir internationale Regeln schaffen, um mit dieser Technologie verantwortungsvoll umzugehen.
Was kann jede und jeder Einzelne zur Sicherheit beitragen?
Hessel: Bewusst leben. Differenziert denken. Keine Schwarz-Weiß-Narrative verbreiten. Aufeinander achten, im Alltag respektvoll sein. All das ist Teil geistiger Landesverteidigung. Wenn wir von der Politik Deeskalation verlangen, müssen wir im Kleinen damit anfangen. Schon ein Lächeln, ein freundliches Wort, kann viel bewirken. Diese alltägliche Kultur der Achtsamkeit stärkt die Resilienz einer Gesellschaft.
Sie haben einmal gesagt: „Die Welt wird nicht friedlicher.“ Was gibt Ihnen dennoch Hoffnung?
Hessel: Dass viele Menschen bewusster werden. Sie spüren, dass einfache Antworten nicht ausreichen. Und sie erkennen, dass Respekt, Dialog und Zusammenhalt entscheidend sind. Ich sehe, dass gerade in Gesprächen – auch mit jungen Menschen – ein Bedürfnis nach Differenzierung, nach Verantwortung und nach echter Gemeinschaft wächst. Diese soziale Intelligenz ist meine größte Hoffnung.